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Katja
Plachov154
Drei Jahre nach der Ersterscheinung des Werks und ein Jahr nach der zweiten
Auflage17 äußerte sich Fülöp-Miller in einem Interview mit der konservativen
Wiener Tageszeitung Reichspost über die von ihm beabsichtigte Ausrichtung sei-
ner Studie und die Motive seiner Reise wie folgt:
[I]
ch [habe] aus eigenem Antrieb das Land bereist, die Provinzen besichtigt. Mein
Augenmerk war dabei nicht sosehr auf die politische oder volkswirtschaftliche Seite des
neuen Systems gerichtet. Ich suchte vielmehr das seelische Moment, das geistige Antlitz
des Bolschewismus. Diese meine Erfahrungen habe ich dann nach bestem Gewissen in
dem genannten Buche niedergelegt.18
Möglicherweise hat Fülöp-Miller die Reise aus eigenem Antrieb, das heißt aus
einem persönlichen Interesse heraus bestritten, nicht aber auf Grundlage eigener
Mittel, da zahlreiche Reiseabrechnungen in seinem Nachlass eine Fremdfinanzie-
rung seines Unternehmens belegen.19 Da er während seiner beiden Aufenthalte
journalistisch tätig ist und aus Moskau und Leningrad Beiträge für österreichi-
sche Tageszeitungen verfasst, ist Geist und Gesicht sicher auch als Ergebnis von
Textproduktionen für diese Presseorgane mit einem spezifischen Zielpublikum
zu betrachten. Im Jahr 1924 erscheinen beispielsweise in der Neuen Freien Presse
zahlreiche Texte mit explizit markiertem Urheberrecht, die thematisch den spä-
teren Unterkapiteln von Geist und Gesicht in Teilen entsprechen und Fotografien
enthalten, mit denen Fülöp-Miller etwa die Entwicklungen der russischen Büh-
nenkunst illustriert.20 Es liegt nahe, diese journalistischen Arbeiten als Grund-
lage für Geist und Gesicht zu betrachten.
für den Regisseur und sein Ensemble durch Europa zu organisieren. Einige deutsch-
sprachige Briefe darüber befinden sich im Nachlass des Theaterregisseurs in Moskau
(vgl. z.B. René Fülöp-Miller an Mejerchol’d (28.7.1924), Rossijskij archiv literatury i
isskustva (RGALI), Fond 963, opis’ 1, delo 84).
17 Die Angaben des Amalthea-Verlags „1.–4. Tausend 1926“ und „5.–9. Tausend 1928“
sind vor dem Inhaltsverzeichnis der zweiten Auflage zu finden (vgl. Fülöp-Miller,
Geist und Gesicht [2. Auflage]).
18 Rochus Kohlbach: „Ich glaube an die Gnade …“. Gespräch mit René Fülöp-Miller.
In: Reichspost (25.12.1929), S. 9.
19 Material Abteilung für Handschriften und Alte Drucke, Bayerischen Staatsbibliothek,
Signatur:
Ana 373, Schachtel 11. Weitere Hintergründe der Reise Fülöp-Millers in die
Sowjetunion werden im Rahmen des laufenden Dissertationsprojekts erforscht.
20 Vgl. u.a. René Fülöp-Miller:
Russische Kunst und russische Künstler. In:
Neue Freie
Presse (5.4.1924), S. 1f.; ders.: Originalaufnahmen aus Sowjet-Russland. In: Illust-
rierte Wochenendbeilage der Neuen Freien Presse (5.4.1924), S.
23:
Bei erstgenann-
tem Beitrag steht „Copyright 1923 by René Fülöp-Miller, Nachdruck verboten“, bei
letztgenanntem fotografischen Beitrag „Spezialkorrespondent der Neuen Freien Presse,
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur