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Katja
Plachov164
Die Deutung von Tatlins „Maschinenkunst“ jedoch fällt nach einer Detailbe-
schreibung wiederum tendenziell skeptisch, ja negativ aus. Architektur auf ihre
technische Zweckmäßigkeit zu reduzieren sei, so Fülöp-Miller, in Deutschland
bereits diskutiert und wieder verworfen worden. Zudem trachten die Revolutio-
näre laut Fülöp-Miller diese ursprünglich von Gottfried Semper stammende Idee
als „der proletarischen Kultur eigene Errungenschaft“ einzuverleiben [GG 144].
Das gleicht den Ausführungen eines französischen Reisenden des 19. Jahrhun-
derts, die Wolff ebenfalls in seiner Studie zitiert hat: „Ich mache den Russen
keinen Vorwurf daraus, dass sie sind, was sie sind; was ich ihnen vorwerfe, ist,
dass sie vortäuschen zu sein, was wir sind.“44 Durch die Bezugnahme auf angeb-
lich alte, europäische Ideen werden die Bauten Tatlins als künstlerische Erschei-
nungen eines defizitären, da lediglich nachahmenden Charakters überführt
und abgewertet. In Ergänzung zum zivilisatorischen Unterlegenheitsdiskurs Le
Bons im ersten Kapitel stellt Fülöp-Miller an dieser Stelle die technisch-hand-
werkliche Unterlegenheit der Bolschewiki heraus, wobei diskursiv wiederum
Raumvorstellungen mit Entwicklungsgefällen verknüpft werden. Die wirklich-
keitsfremde Bauplanung sei zwar auch auf die aktuelle wirtschaftliche Notlage
im Land, vor allem jedoch auf das „völlige […] Fehlen jeglicher Sachkenntnis bei
all den Künstlern, Architekten und Ingenieuren“ zurückzuführen, die nicht im
entferntesten an jene der westeuropäischen Baumeister heranreichen [GG 152].
Als weiterer zentraler Aspekt der zweiten Abteilung ist die Darstellung des zeit-
genössischen Theaters um den Regisseur Mejerchol’d zu nennen, wobei Fülöp-Mil-
ler nicht als erster dessen experimentelle und politisierte Bühnenkunst beschrieben
hat:
Einige Jahre zuvor hatte bereits Arthur Holitscher das Schauspielverfahren der
Biomechanik, der Agitationsstücke sowie das 1918 in Petrograd aufgeführte Mas-
senschauspiel Einnahme des Winterpalais geschildert.45 Tatsächlich waren es, so
Wladimir Koljasin, „deutsche Reisende, die als erste das revolutionäre Theater in
Rußland entdeckten“,46 wobei sich die „Legende Mejerchol’d“ insbesondere durch
Texte etwa von Walter Benjamin und Fülöp-Miller und die darin entworfenen
„grellen Porträts“ des Künstlers konstituierte. Vor allem Fülöp-Miller war ein „lei-
denschaftlicher Propagandist“ des Regisseurs.47
44 Wolff, Erfindung Osteuropas, S. 25.
45 Vgl. Wladimir Koljasin:
Theater und Revolution. Glanz und Elend der deutsch-russi-
schen Künstlerbeziehungen. In:
Gerd Koenen (Hg.):
Deutschland und die Russische
Revolution. München:
Wilhelm Fink 1998, S.
703–732, zit. 712.
46 Ebd., S.
709.
47 Ebd., S.
717 und 727. S. außerdem den Beitrag von Kurt Ifkovits.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur