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Gregors Sowjetreise und Das russische Theater 185
behandelt wurde. Daneben bemühte sich Fülöp-Miller (vergeblich) Mejerchol’d
mittels eines Gastspieles nach Österreich zu bringen.31
2 Joseph Gregors Konstruktion des russischen Theaters
René Fülöp-Miller verfasste den als „historischen“, Joseph Gregor den als
„methodischen“ bezeichneten Teil sowie das Vorwort des Buches Das russische
Theater. Darin beschäftigte sich Gregor „unter Enthalt aller privaten und gesell-
schaftlichen Funktionen des Theaters rein mit der Analyse der Mittel künst-
lerischer Darstellung“ [RT 9]. Das bewusste Aussparen alles Politischen gelingt
freilich nicht immer. Bemerkenswert ist die von Gregor berücksichtigte Litera-
tur. Neben Carl Einsteins Kunst des 20.
Jahrhunderts verwendet er auch aktuelle
sowjetische Literatur, die er aufgrund einschlägiger Sprachkenntnisse im Ori-
ginal zitiert.32
Einleitend arbeitet Gregor Differenzen zwischen dem russischen und dem
europäischen Theater heraus. Im russischen Theater fehle das das europäische
Theater Prägende, wie beispielsweise das Jesuitendrama. Gregor führt dies auf
die Liturgie des orientalisch-byzantinischen Christentums zurück, die episch
sei, jene des okzidentalen hingegen dramatisch. Während die katholische Litur-
gie theatrale Elemente integriert habe, bleibe in der Orthodoxie alles „verhüllt,
hinter Bildern, Symbolen und Gesängen“ [RT 13]. Dergestalt erweise sich die
russische Religion als theaterfeindlich: Das russische Volksspiel jener Zeit sei
primär Sache der Folklore, nicht der Religion. Theatralik komme im Russischen
aus dem Volksbewusstsein, was wiederum die starke Beziehung des Theaters
zum Volk erkläre. Denn im Gegensatz zum Westen, wo die Theater aus Wander-
truppen entstanden seien, waren es in Russland Leibeigenentheater. Die Macht-
verhältnisse sind damit umgekehrt:
Hier stehe der Rechtlose auf der Bühne, dort
der Star. Damit hänge auch die unterschiedliche Psychologie der Schauspieler
zusammen: Der russische, im Kollektiv verankert, sei Ausdruck des schauspie-
lerisch-schöpferischen Willens seines Volkes, lebe in der Seele, nicht im Schein.
Zwar seien auch in Russland Wandertruppen, die eine vermittelnde Funktion
hatten, nachweisbar, doch wurden diese von Peter dem Großen ins Land geholt.
31 Vgl. Koljasin, Gastspiele russischer Theater in Berlin, S. 175.
32 So gab Gregor auf diversen Curriculae Vitae an, u.a. Ruthenisch, also Ukrainisch,
Polnisch und Russisch zu beherrschen (vgl. Standesnachweis Joseph Gregor, 1936,
Bundesministerium für Unterricht 1936, GZ 33741-I/69. HSTA, Rub 56; Ansuchen
Joseph Gregor Aspirant Nationalbibliothek, 24.9.1918, beigelegtes Curriculum vitae.
Kopie im Nachlass Agnes Bleier-Brody, Theatermuseum Wien).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur