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Gregors Sowjetreise und Das russische Theater 193
Volkstheater (ab 24. November 1945) angefragt.47 Die im Nachlass erhaltene
Eröffnungsrede zeigt Gregors Konzept sowie gewisse Akzentverschiebungen,
die freilich auch zeitbedingt waren. Nach wie vor erkennt Gregor die Bedeutung
des russischen Theaters an, bilde es doch „die stärkste Anregung, die lebhafteste
Diskussion, die aufregendste Problematik, die ganz Europa jemals auf diesem
Gebiete zuteil geworden ist“.48 Da es aus Platzgründen unmöglich sei, sämtli-
che „Erscheinungen und Leistungen“ zu zeigen, „deren Wirkung auf das Theater
Europas fortdauert“, reduzieren sich die vorgestellten Personen auf Konstantin
Stanislavskij als Beispiel für eine vorbildliche Theaterkultur, auf Vachtangov,
dem der Übergang vom Symbolismus der Bühne zu jenem des Raumes gelun-
gen sei, sowie Nikolaj Evreinov, der die Oktoberrevolution theatralisch zu fassen
versucht habe. Abschließend verweist Gregor noch auf die im Westen stilbil-
dende Kraft des russischen Balletts. Als „größte Leistung des russischen Theaters
im letzten halben Jahrhundert“ versteht Gregor den „Weg ins Innere der Kunst
des Theaters, die Steigerung zu seiner immer grösserer [sic] Kultur“,49 womit er
den zentralen Gedanken des Buches Das russische Theater wiederholt. Bemer-
kenswert sind die Leerstellen, gerade im Vergleich mit dem Buch: Die radikale
Avantgarde eines Tatlin fehlt ebenso wie das Theater Mejerchol’ds, der das Opfer
stalinistischen Terrors geworden war. Objekte hätte Gregor zweifellos gehabt,
politisch war dies im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit aber nicht mög-
lich.
6 Ausblick
Auch nach 1945 konnte Gregor mit den Rahmenbedingungen gut umgehen,
erfüllte die an ihn gestellten und von ihm erwarteten Anforderungen – ein
erneuter Beleg für Gregors Opportunismus im Wandel der Zeiten?
Hinsichtlich seiner Reise in die Sowjetunion und seines Interesses am rus-
sischen beziehungsweise sowjetischen Theater gilt es, dies differenzierter zu
47 Vgl. Josef Bick an die Direktion des Volkstheaters, 12. November 1945, Konzept
Ausstellung „Russische Theaterkunst“, Gr 29/9/1/1. Das Material sollte von Joseph
Gregor mit Direktor Günther Haenel ausgewählt und anschließend vom sowjetischen
Hauptmann Komarow und Max Meinecke und Gustav Manker begutachtet werden.
Erwähnt werden reproduzierte Fotos und vier Bühnenmodelle. Der befreite Don Qui-
chotte wurde am 24.12.1945 erstmals aufgeführt.
48 Joseph Gregor:
Die Ausstellung „Russisches Theater“. Typoskript mit hs. Korrekturen.
Theatermuseum Wien, HS_VM 2807 Gr.
49 Ebd.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur