Page - 198 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Image of the Page - 198 -
Text of the Page - 198 -
Barbara
Lesák198
Sowjetunion hatte die radikale Neuordnung des gesamten öffentlichen wie auch
privaten Lebens – die Kollektivierung allen privaten Eigentums – Ausmaße
eines gigantischen Erdbebens: Zum einen führte es zu einem Aderlass an Kul-
turschaffenden, die vor der kommunistischen Ideologie in den Westen flohen.
Zum anderen bot sich den freiwillig Zurückgebliebenen, die sich an den Ideen
einer klassenlosen Gesellschaft entzündeten, die einzigartige Möglichkeit, an der
Schaffung einer neuen Kunst, die auch Ausdruck der neuen Ideologie sein sollte,
mitzuwirken. Der in Westeuropa angekommene Strom der Fliehenden teilte sich
in drei große Emigrationsdestinationen auf: Berlin und Paris, aber auch Prag,
das seine „slawischen Brüder“ – hervorstechend ist hier die große Anzahl der
Akademiker unter den russischen Emigranten – sehr gastfreundlich aufnahm
und sie auch großzügig finanziell unterstützte.2 So konnte sich hier die aus ver-
sprengten Mitgliedern des Moskauer Künstlertheaters zusammengewürfelte
Prager Gruppe des Moskauer Künstlertheaters konstituieren, weil das Angebot
der Stadt, über ein ständiges Theater verfügen zu können, dem Tourneen-Dasein
ein glückliches Ende gesetzt hatte.
Vorzugsweise im Westen Berlins war in den frühen 1920er Jahren eine verita-
ble russische Künstlerkolonie entstanden, in deren Umfeld nicht nur ein reich-
haltiges Angebot an Restaurants mit russischer Küche sowie zahllose, auf die
russische Klientel zugeschnittene Einrichtungen (Fotostudios, Frisöre, Delikates-
sengeschäfte, Ballett-Schulen)3 das Heimweh der Emigranten milderte, sondern
auch rasch ein dichtes Netz kultureller Institutionen sich ausbreiten konnte:
Zei-
tungen und Kleinverlage wie zum Beispiel der unter dem Schirm von Ullstein
stehende russischsprachige Verlag Slovo, der so manchen unter den nach Berlin
emigrierten Literatinnen und Literaten ein Publikationsforum in der Fremde
bot. Zu erinnern ist aber auch an Galerien und vor allem an die Kleinkunstbüh-
nen4 wie Der Blaue Vogel oder dessen (im Schatten des Riesenerfolgs des Blauen
2 Der erste Präsident der Tschechoslowakei, Tomáš Garrigue Masaryk, veranlasste
ein umfangreiches Hilfsprogramm für Emigrantinnen und Emigranten aus Russ-
land. Vgl. dazu die historische Aufarbeitung in: Ljubov Běloševská (Hg.): Kronika
kulturního, vědeckého a společenského života ruské emigrace v Československu I,
1919–1929. Praha: Slovanský ústav AV ČR 2000.
3 In den Programmheften der in Berlin sesshaft gewordenen russischen Emigranten-
bühne Der Blaue Vogel finden sich zahlreiche Inserate, in denen russische Geschäfts-
leute, die sich in Berlin niedergelassen hatten, ihre Dienstleistungen bzw. Waren
anpreisen.
4 Ausführlich beschrieben und analysiert wird das vielfältige Theaterleben der rus-
sischen Emigrantenbühne in Berlin bei: Michaela Böhmig: Das russische Theater
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur