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Gastspiele sowjetischer Theatertruppen in Wien 201
das Theater wieder zusperren, obwohl Robert Musil zum Beispiel dem Pro-
gramm viel Positives abgewinnen konnte:
„Sie spielen kleinen Blödsinn mit den
Mitteln der Vollkommenheit“,8 schrieb er voll Enthusiasmus. Doch das Interesse
am russischen Exotismus war von dem immer wieder nach Wien einkehrenden
russischen Kabarett Der Blaue Vogel sowie von anderen russischen Kleinkunst-
truppen, die in Wien ebenfalls gastierten, ausreichend bedient und es bedurfte
offenbar keiner ständigen Einrichtung eines russischen Kabaretts in Wien.
Natürlich spielte dabei auch in der geschrumpften Ersten Republik die wenig
verlockende finanzielle Situation für russische Emigrantinnen und Emigranten
eine Rolle.
2.1 Das Moskauer Künstlertheater und seine Doubles
Der Auftakt zur ersten Konfrontation mit dem russischen Theater ergab sich mit
dem Gastspiel des weit über die Grenzen Russlands hinaus berühmt gewordenen
Moskauer Künstlertheaters, das bereits auf seiner ersten Tournee 1906 in Wien
Station gemacht und großen Eindruck hinterlassen hatte. Als die „Moskauer“
1921 wieder kamen, hatte sich nicht nur Europa politisch und gesellschaftlich
völlig gewandelt, sondern auch die Truppe selbst trat in veränderter Formation
auf: als eine vom Moskauer Stammhaus unfreiwillig während eines Gastspiels
in der Ukraine abgespaltene und in die Emigration getriebene Truppe der soge-
nannten zweiten Garnitur, die nun unter der Leitung des Schauspielers Vasilij
Kačalov stand.9 Als sich aber 1922 das in Moskau verbliebene Künstlertheater
mit Konstantin Stanislavskij auf eine zwei Jahre lang10 währende Auslandstour-
nee begab, die einem Siegeszug über Amerikas und Europas Bühnen gleichkam,
kehrten einige Mitglieder der Kačalov’schen Truppe samt seinem Leiter wieder
zum ursprünglichen Team zurück. Ein Teil jedoch verblieb unter dem Erfolg
versprechenden Banner Moskauer Künstlertheater in Westeuropa und wurde
schließlich in Prag als Prager Gruppe des Moskauer Künstlertheaters für einige
Zeit sesshaft.
8 Robert Musil: Moskauer Kunstspiele [1. Dezember 1923]. In: ders.: Gesammelte
Werke in neun Bänden. Hg. von Adolf Frisé. Bd. 9. Reinbek b.H.: Rowohlt 21981,
S. 1626.
9 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Spaltungen und Wiedervereinigung des
Moskauer Künstlertheaters in: Molnári, Das russische Theater, S. 20ff.
10 Vgl. dazu: Böhmig, Das russische Theater in Berlin, S. 12f. Auch von Stanislavskij
selber gibt es dazu einen kurzen Bericht in seiner Autobiographie (vgl. Konstatin
S. Stanislawski: Mein Leben in der Kunst. Westberlin: Das europäische Buch 1987,
S. 475f.).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur