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Barbara
Lesák210
sowjetrussischen Theaterkonstruktivisten mit ihren Entwürfen und Bühnen-
bildmodellen an der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik,31 die im
Rahmen des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien im Herbst 1924 stattfand.
Nach 1930
– dem Jahr, als der grandiose Theatererneuerer Aleksandr Tairov mit
seinem Kammertheater noch einmal nach Wien kam
–, wurden die Wien-Tour-
neen sowjetrussischer Theatertruppen jedoch wieder eingestellt. Die politische
Lage hatte sich verändert: Die theaterexperimentellen Umtriebe fanden bei den
Ideologen der kommunistischen Partei keine Wertschätzung mehr. Es hatte sich
eine neue, von der Führungsriege um Stalin abgesegnete Kunsttheorie durchge-
setzt, die als „Sozialistischer Realismus“32 1934 zur offiziellen Staatskunst-Dok-
trin deklariert wurde. Die damit verbundene künstlerische Bevormundung war
schon länger in der Luft gelegen, weshalb sich zum Beispiel das Habima-Ensem-
ble 1931 nach Palästina abgesetzt hatte oder im Zuge einer Amerika-Tournee des
Staatlichen Jüdischen Kammertheaters, dessen Gründer Aleksander Granovskij
mit zweien seiner Bühnenbildner in den USA blieb. Ebenso verließen manche
Schauspieler des Moskauer Künstlertheaters bei Gastspielreisen ihr Ensemble
wie zum Beispiel Vladimir Sokolov, der später in Hollywood eine Filmkarriere
starten konnte.
Die sowjetische Kunst, die bis in den Alltag des Sowjetmenschen Eingang
gefunden hatte, löste im Westen einen nicht unbeträchtlichen Kulturschock
aus. Für das Neue der sowjetrussischen Theaterkunst wurde damals von vie-
len mehr oder weniger naiv agierenden westlichen Kritikern – damit ist nicht
die avantgardistische westliche Fachkritik gemeint, die neuen Kunstrichtungen
gegenüber aufgeschlossen war – geradezu verzweifelt nach einem Erklärungs-
modell gesucht. Es wurde populär, alles, was an Kunst – sei es Theater, Fotogra-
fie, Kunstgewerbe oder Malerei – aus der Sowjetunion nach Westeuropa kam,
einseitig unter den Begriff des „Technischen“ zu rubrizieren. Der Kunsthisto-
riker und Journalist Wolfgang Born, der 1929 in der bürgerlich-liberalen Wie-
ner Wochenzeitschrift Die Bühne über die neue russische Fotografie berichtete,
repräsentiert prototypisch diese Haltung. So schreibt er: „Bei den Russen ist der
Vorgang anders; für sie ist die Technik nicht Voraussetzung, sondern Programm.
31 Vgl. dazu einen Beitrag von René Fülöp-Miller über Die neue russische Bühne in:
Fried-
rich Kiesler (Hg.): Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik. Wien: Würthle
& Sohn 1924 [Reprint: Löcker:
Wien 1975], S. 68–80.
32 Eine genaue Definition dieses Begriffs bietet: Wolfgang Kasack: Lexikon der russi-
schen Literatur ab 1917. Stuttgart: Alfred Kröner 1976, S. 379–382.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur