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Gastspiele sowjetischer Theatertruppen in Wien 211
Sie betonen das Neue. Es ist ihnen Überraschung“.33 Als krasser Gegensatz dazu
stand – und daran hielten die traditionsbewussten Kritiker eisern fest – die
Überzeugung, die Kunst des Westens sei im sogenannten „Geistigen“ veran-
kert. Gegen dieses Bollwerk des „Geistigen“ brandete nun diese vorgeblich von
Technik bestimmte russische Kunst an. Bestärkt sah sich die Abwehrhaltung der
Kritik auch dadurch, dass sich die neue Kunst mit der Revolution verbrüdert
hatte und als „Revolutionskunst“ für eine Zeit lang zur sowjetischen Staatskunst
erklärt wurde.
4 Das „entfesselte Theater“ Aleksandr Tairovs
Im Juni 1925 war es schließlich soweit, dass Aleksandr Tairov mit seinem Staat-
lichen Moskauer Kammertheater im Raimundtheater sowie im Deutschen
Volkstheater das Wiener Publikum wie auch die Kritiker mit seinen Erfolgsin-
szenierungen in den Bann zog. Es war eine wahrhaft geballte Werkschau, mit
der sich das „entfesselte Theater“ in seiner ganzen innovativen Vielfalt vorstellte.
Für die Reformierung des Bühnenbildes standen Tairov so bedeutende kons-
truktivistische Architekten wie Aleksandr Vesnin oder die Brüder Vladimir
und Georgij Stenberg sowie der Maler Georgij Jakulov und bis zu ihrer Emig-
ration 1920 nach Paris auch die Malerin Aleksandra Ėkster zur Verfügung. Die
Architekten unter ihnen bestückten den Bühnenraum mit großen konstrukti-
vistischen Gerüstkonstruktionen, die aus Stangen, Rampen und Brücken ein
miteinander verbundenes System bildeten, das mit sparsam gesetzten Attributen
der Moderne wie Leuchtreklamen oder Plakaten auf die aktuelle Gegenwart ver-
wies. Ein Höhepunkt dieser konstruktivistischen Bühnengestaltung war sicher-
lich Vesnins Spielgerüst für G.K. Chestertons Satire Der Mann, der Donnerstag
war aus dem Jahr 1923. Die eher malerisch orientierten, aber auch die archi-
tektonisch vorgehenden Bühnenbildner Tairovs schufen – wenn sie mit dem
Bühnendekor für Stücke beauftragt waren, die in antikischen oder biblischen
Handlungszeiten wie etwa in der Phädra von Racine (Bühnendekor von Vesnin)
oder Salome von Oscar Wilde (Bühnendekor von Ėkster) angesiedelt waren –
Räume aus einfachen, plastischen, oft stark farbigen Dekorationselementen wie
Säulen, Quadern, Prismen, Treppen und Stufen. Daraus resultierte – wie auch
33 Wolfgang Born: Neue Lichtbildkunst. In: Die Bühne, Nr. 224/1929, S. 30. W. Born
(1893–1949), ein deutsch-amerikanischer Kunsthistoriker, kam 1925 nach Wien, wo
er u.a. als freier Journalist für den Rundfunk und für Zeitschriften arbeitete, bis er
1937 kurz vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten Österreich verließ und in die
USA emigrierte.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur