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Barbara
Lesák216
Sintflut und Jáakobs Traum. Ursprünglich war die Habima eine bereits 1912 von
dem jüdischen Lehrer Nachum Dawid Cemach ins Leben gerufene Laiengruppe,
die sich aufgrund ihres obsessiven Theaterspielens in Moskau sehr bald den Sta-
tus der Professionalität angeeignet hatte. Sie verstand es meisterlich, in ihren
eindringlich-expressiven Inszenierungen das moderne konstruktivistische Ele-
ment mit dem ethnischen Kolorit der bereits versunkenen ostjüdischen Schtetl-
Kultur zu verbinden. Hauptsächlich führte die Habima jiddisch geschriebene
Dramenliteratur, ins Hebräische übertragen, auf und machte die Welt mit dem
modernen jiddischen Theater, das sich seit den achtziger Jahren des 19. Jahr-
hunderts vor allem in Osteuropa formiert hatte, bekannt. Ihre von Evgenij Vach-
tangov, dem begabtesten Regieschüler Stanislavskijs, geleitete Inszenierung der
chassidischen Legende Der Dybuk von An-skij, der als ethnologisch interessier-
ter Dichter viele jüdische Ghettos in der Ukraine bereist hatte, näherte sich der
Form des rituellen Theaters an, wie es ein paar Jahre später auch von Antonin
Artaud, dem französischen Theaterrebellen, verfochten werden sollte. Das Gast-
spielrepertoire umfasste noch vier weitere Stücke, die gleichfalls im kabbalisti-
schen Milieu spielten oder ganz allgemein das Judentum zum Thema hatten.
Die hermetisch geschlossene Theaterwelt der Habima-Truppe wurde in Wien
mit Respekt und Bewunderung aufgenommen. So stand in der Zeitschrift Die
Bühne zu lesen: „Das Theater der ‚Habima‘ ist mit Besessenheit, letzter Hingabe
und Ekstase seiner Schauspieler geheizt … Theater scheint ihnen Kult zu sein,
fanatische Idee, Religion, der sie als Tiefgläubige dienen.“41 Auch die radikale
Formalisierung der Szene in expressionistisch geprägte Bilderfolgen trug zur
Intensivierung des Eindrucks bei. „Der Stil der ‚Habima‘ ist expressionistisch“,
schrieb Felix Salten und führte weiter aus: „Ein wirklichkeitsnaher, reizvoller
Expressionismus. Er geht nicht auf Täuschung aus, er gibt Zusammengefaßtes.
In jedem verschminkten Antlitz, in jedem sanglich schwingenden Wort, in der
Gymnastik aller Gebärden.“42 Auch das Habima-Ensemble, obgleich in Russland
entstanden und in der schwierigen Zeit nach der Oktoberrevolution groß gewor-
den, kehrte nicht mehr geschlossen in die Sowjetunion zurück, sondern ließ sich
nach vielen Stationen 1931 in Palästina nieder.
1928 kam das Staatliche Jüdische Kammertheater, die zweite in Moskau ansäs-
sige jüdische Theatergruppe, die sich 1921 unter dem unter anderen bei Max
Reinhardt in die Lehre gegangenen Regisseur Aleksandr Granovskij formiert
41 N.N.: „Habima“. Gastspiel des Moskauer Theaters im Carltheater. In: Die Bühne,
H. 841/1926, S. 3.
42 Felix Salten: Gastspiel „Habima“. In: Neue Freie Presse (30.5.1926), S. 15.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur