Page - 227 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
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Zur Rezeption des sowjetrussischen Theaters 227
Truppe lesen wir: „Sehr viel erwarten wir uns von einer Arbeitsgemeinschaft
über russische Kunst- und Theaterfragen“,29 von deren Aktivität wir allerdings
in Hinkunft nichts mehr erfahren. Wenn wir uns an die Beschreibungen im
Schulkampf halten, so scheint auch hier Keržencev Pate gestanden zu haben. Es
handelt sich um Stegreifspiele im Freien, um Episoden aus der Geschichte des
Klassenkampfs, wobei nur der Szeneninhalt vorher gemeinsam festgelegt wor-
den ist. Die Szenen waren auf Kontrastwirkung aufgebaut, etwa zwischen den
Lebensbedingungen der Bauern und denen des Adels. Im Spiel vom Bauernkrieg
führte die letzte Szene in die Gegenwart: Es vollzog sich die Vereinigung des
Proletariats des Landes mit dem der Städte, gleichfalls ein wesentliches Thema
im russischen Agitationstheater.30
Auch in den ersten Programmen des Politischen Kabaretts wurde viel impro-
visiert. Allerdings wurden sowohl bei Keržencev als auch bei Fülöp-Miller die
revolutionären Kabaretts und satirischen Truppen nur am Rande erwähnt, ohne
Zweifel aber fanden sich, wie Ehrenzweig bestätigt hat, in den Beschreibun-
gen des Mejerchol’d-Theaters, der Proletkultbühne Sergej Ėjzenštejns oder der
verschiedenen Umzüge bei Fülöp-Miller viele Anregungen für ein satirisches
Theater wie das Wiener Politische Kabarett. Die Kabarettisten erhielten wohl im
Laufe der Jahre weitere Anregungen, etwa aus den Reiseberichten linker Intel-
lektueller oder aus den zahlreichen Artikeln in der deutschen Presse.31 Auch
über die deutschen Agitproptruppen, von denen zuweilen Sketches übernom-
men wurden,32 könnten sowjetische Theaterexperimente den Weg nach Wien
gefunden haben. Ein Hinweis auf das Rote Sprachrohr, die führende deutsche
kommunistische Agitprop-Zeitschrift, in der Politischen Bühne zeigt, dass die
29 N.N: Wir roten Spielleute. In: Der Schulkampf, Nr. 6/1926, S. 9f.
30 Vgl. E.R. [d.i. Ella Reiner]: Wir Roten Spielleute. In: Der Schulkampf, Nr. 4/1926,
S.
2f. Vgl. dazu auch:
Friedrich Scheu:
Ein Band der Freundschaft. Schwarzwald-Kreis
und Entstehung der Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler. Wien: Böhlau 1985,
S. 155–160.
31 In der österreichischen sozialdemokratischen Presse finden sich nur sehr verein-
zelt Beiträge zum russischen Theater. Der Karlsruher Sozialdemokrat Siebert etwa
weist vor allem auf die massenhafte Verbreitung der Liebhaberzirkel, Arbeiter- und
Soldatenklubs hin und kommt zu dem Schluss, „der Weg, durch Liebhaberzirkel die
Masse für das Theater zu begeistern, [hat] sich als der geeignetste erwiesen, jeder
Theaterkrise zu begegnen“ (Karl Siebert:
Neues Theater in Rußland. In:
Der Kuckuck,
Nr. 46/1931, S. 15).
32 So hat etwa das Politische Kabarett in seinem zwölften Programm mehrere Szenen
der Dresdner Truppe Die Roten Ratten übernommen und „eingewienert“, was sicher
nicht den einzigen Fall darstellt.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur