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Zur Rezeption des sowjetrussischen Theaters 229
All diese dramaturgischen und szenischen Verfahrensweisen finden wir im
Politischen Kabarett wieder, etwa die allegorische Darstellung der gesellschaft-
lichen Kräfte,38 die Enthüllungsstrategie, bei der hinter der bürgerlichen Zeitung
und dem Klassenstaat das Kapital hinter dem letzten Vorhang zum Vorschein
kommt, die Technik des Kontrastes, etwa zwischen dem neuen und dem alten
Wien, der öffentlichen und privaten Bautätigkeit usw., sowie die Ding-Allego-
rien, besonders die im sowjetischen Theater häufige Allegorie des Geldes.39 An
die Stelle des triumphierenden Arbeiters im sowjetischen Theater tritt der kämp-
ferische Arbeiter, der in einigen Programmen das Schlusswort spricht und zur
gemeinsam gesungenen Internationale überleitet.
Zu den Techniken der Blauen Bluse wie des Politischen Kabaretts gehörte
auch, Volkslied- und Schlagermelodien satirische Texte zu unterlegen und so aus
dem Kontrast zwischen Text und Melodie komische Effekte zu erzielen. Auch
manche szenischen Einfälle mögen dem russischen Theater abgeschaut sein.
So finden wir zum Beispiel die bei Fülöp-Miller geschilderten symbolischen
Begräbnisse des Kapitals40 im dritten Programm des Kabaretts als Leichenbe-
gängnis der Einheitsliste wieder. Es gibt noch weitere Gemeinsamkeiten, doch
wäre es müßig, auf der Basis von Vermutungen solche konkret nachweisen zu
wollen, zumal die Wiener Kabarettisten, vor allem was die Vielzahl glücklicher
Szeneneffekte betrifft, selber immer erfindungsreicher wurden, und auch durch
den Bezug auf Karl Kraus und das Altwiener Volkstheater eine genuin öster-
reichische Form des Agitationstheaters entwickelten. Festhalten kann man, dass
das Politische Kabarett nach eigenem Bekunden vor allem am Anfang durch die
sowjetrussischen Theaterexperimente zu eigener Theaterarbeit ermutigt wurde.
Inszenierungen auf Agitprop-Techniken zurückgriff, sowie mit Vertretern der linken
Avantgarde wie Ossip Brik und Sergej Tret’jakov.
38 In seinem Artikel „Ernste Szenen“ (in: Die Politische Bühne, H. 7–8/1933, S. 127)
schreibt Edmund Reismann, der Leiter der Ottakringer Roten Spieler, diesbezüg-
lich:
„Unsere Menschen sind nicht Persönlichkeiten mit psychologisch durchgearbei-
teten Einzelschicksalen, sondern Menschen, die sichtbar für Ideen, für Klassen, für
politische Mächte auf der Bühne zu stehen haben. Also Vertreter, also Symbole für
größere, durchaus nicht kleinliche persönliche Dinge.“
39 So wird etwa im zwölften Programm in der Schlussszene „Wohin rollst du, Schil-
ling?“ anhand zweier von Kabarett-Girls verkörperten Schillingen der Unterschied
der Steuerpolitik des Roten Wien und der christlichsozialen Regierung erläutert (vgl.
Friedrich Scheu:
Humor als Waffe. Politisches Kabarett in der Ersten Republik. Wien–
München–Zürich: Europaverlag 1977, S. 251).
40 Vgl. Fülöp-Miller, Geist und Gesicht, S. 189.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur