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Marco
Hoffmann250
nicht mehr wirksam, stattdessen geht die einzelne Existenz in der „Kollektivität
als aktuell-moderne[r] Form von Humanität“41 auf. Sehr deutlich lässt sich diese
Feststellung mit den proletarischen Konzepten des Futurismus in Einklang brin-
gen: Der schon oben genannte Gastev ging bezüglich seines Werkes und seiner
Vorstellungen vom neuen Menschen von einem „mechanisierten Kollektivis-
mus“ aus, in dem sich Individualität gänzlich auflöse.42
Dass die Maschinen dem in der Oper gegenwärtigen Menschen aber nicht nur
faktisch, sondern auch ideologisch eine Lebensgrundlage bieten,43 ist an sämt-
lichen Chorpassagen des Volkes im Libretto deutlich abzulesen. Am Anfang des
zweiten Aktes etwa findet sich die einzige Szene, in der die Maschinenhalle bei
Tag und somit bei vollem Arbeitseinsatz zu sehen ist. Der Chor der Arbeiterin-
nen singt:
„Reichet eine Hand der andern. Arbeitsbandes endlos Wandern fließt
in uns durch uns zum Ziel. Keine Mühe ist zu viel.“44 Neben der eigenen Wert-
schätzung durch das Arbeiten im Kollektiv klingt hier, wie an anderen Stellen,
die Vitalität des Proletariats an: Das Leben schlechthin wird von den dampfen-
den Maschinen rhythmisiert und erfahrbar gemacht. Analog dazu bildet Brand
aus musikalischer Perspektive in dieser Szene eine sich bis in den Wahnsinn stei-
gernde Maschinenmusik hervor, die Futuristisches mit sinfonischer Raffinesse
in die Sphäre des österreichischen Musiktheaters überführt. Ein Vergleich mit
russischen Vorbildern lässt sich insbesondere zu Aleksandr Mosolovs bereits
erwähntem, dreiminütigem Orchestersatz Zavod aus dem Jahr 1926 ziehen, der
heute auch als Eisengießerei bekannt ist.45 Ursprünglich im musiktheatralischen
Kontext innerhalb des nicht realisierten Balletts Stal (dt. Stahl) konzipiert, ent-
wickelte das Fragment nach der Uraufführung46 schnell eine breite und eigendy-
namische Rezeption. Nicht nur in Russland, sondern auch in Berlin, Paris, Rom,
Prag, Madrid, New York und – für den Bezug zu Brand wichtig – Wien wurde
Zur Jugend“: Franz Schreker und seine Schüler in Berlin. Hildesheim–Zürich–
New York: Olms 2009, S. 63–73, zit. S. 70.
41 Ebd.
42 Vgl. Mende, Musik und Kunst, S. 81.
43 Vgl. ebd.
44 Vgl. Partitur, S. 8f. (T. 36); später singt der gesamte Chor diese Zeile noch einmal.
45 Trotz des heute gebräuchlichen Namens bedeutet der von Mosolov gesetzte Titel
Zavod. Muzyka mašin in Übersetzung eigentlich Die Fabrik. Musik der Maschinen.
46 1927 wurde Zavod zum Anlass des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution im
Moskauer Säulensaal im Komplex einer Orchestersuite unter Konstantin Saradžev
aufgeführt (vgl. Inna Barsova: Das Frühwerk von Aleksandr Mosolov. In: Metzger/
Riehn, Skrjabin und die Skrjabinisten, S. 122–167, hier S. 160).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur