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Omasta und
Mayr294
beispielsweise die Maschinengeräusche des Panzerkreuzers oder die stampfen-
den Stiefelschritte der Kosaken, verweilen kurz vor den Spannungshöhepunkten,
um sich dann in wildem Crescendo zu entladen. Wenn der Schiffskoch das ver-
dorbene Fleisch zerteilt, dann wird jeder Hieb mit der Hacke mit einem Pauken-
schlag ausgeführt. Ähnlich drastische Betonungen finden sich auch in anderen
Szenen, musikalische Rhythmuswechsel begleiten das allmähliche Aufbegehren
der Matrosen gegen die Verhältnisse an Bord. In den ruhigeren Passagen sig-
nalisiert eine bedrohliche musikalische Grundstimmung die angespannte Lage,
andernorts klingen die Internationale an und das Freiheitslied der Französischen
Revolution, die Marseillaise.
Obwohl Meisel für die Prometheus 1928 auch Ėjzenštejns Oktober (1928)
vertont und mit dem Regisseur in der Folge über eine Tonfilmversion seiner
Generallinie für den internationalen Markt verhandelt, kommt es zu einem Zer-
würfnis zwischen Komponist und Filmemacher. Anlass ist eine Begegnung der
beiden im November 1929 bei einer Vorführung der Londoner Film Society.
Hier sieht Ėjzenštejn den Potemkin angeblich zum ersten Mal mit Meisels Musik.
Allerdings wird eine gekürzte Fassung gezeigt, weshalb der Film langsamer
vorgeführt werden muss, um noch zum Score zu passen – mit katastrophalen
Folgen: „Dadurch wurde die Dynamik der rhythmischen Korrelationen derart
gestört“, so Ėjzenštejn, „dass der Effekt der ‚aufspringenden Löwen‘ zum ersten
Mal, seit der Potemkin überhaupt existierte, Lachen hervorrief!“17
Damit endet das Naheverhältnis der beiden Künstler. Ėjzenštejn vollendet
1929/30 Die Generallinie ohne Meisels Zutun; der Komponist fertigt 1930 die
Tonfassung des Potemkin ohne den Regisseur, der sich zu diesem Zeitpunkt
bereits in Hollywood aufhält. Drei Monate nach der Uraufführung des „tönen-
den Panzerkreuzer“ am 12. August im Marmorhaus stirbt Edmund Meisel an
den Folgen einer verschleppten Blinddarmentzündung in Berlin.
2 Die Berliner Tonfassung in Wien
Ende der 1920er Jahre entscheidet sich der Kampf um den Tonfilm. Bereits 1930
hat sich das Lichttonverfahren in Europa durchgesetzt. Das neue Geschäftsfeld
ist seit dem „Pariser Tonfilmfrieden“ von 1930 zwischen einem amerikanischen
(Western Electric) und einem deutsch-holländischen Konzern (Küchenmeis-
ter-Tobis-Klangfilm) aufgeteilt. In den USA hat die gesamte Produktion auf
Tonfilm umgestellt, ebenso in Deutschland, Frankreich und England. Einzig
17 Werner Sudendorf: Meisel und Eisenstein. In: Bohn, Panzerkreuzer Potemkin, S. 18.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur