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116 Regine Prange unter Mitwirkung von Gerd Prange
gesamtkünstlerische Verwandlung jenes Autonomiekonzepts, das der Kunst eine ge-
wissermaßen rebellische Distanz von der gesellschaftlichen Realität zugestanden hatte,
konnte die Funktion der Kunstwissenschaft sichern.
Während Marx die Wahrnehmung der Erscheinungsweise zu einer Kritik der realen
Funktion der Ware weiterentwickelte, haben Künstler, Kunsttheoretiker und angehende
Kunsthistoriker den Eindruck jener ›ungeheuren Warensammlung‹ zum Anlass einer
anderen reformistischen Art von Kritik genommen. Sie opponiert durchaus auch gegen
kapitalistische Prinzipien, weicht deren Analyse jedoch aus in eine eigens konstruierte
ideelle Sphäre allgemein menschlicher Natur, deren Geltungskraft an den Artefakten
vorindustrieller Kulturen ausgemacht und für die Produktion der Industriegesellschaft
wiederbelebt werden soll. Auf zwiespältige Weise imponierend war für Beobachter der
Weltausstellung wie Gottfried Semper vor allem der durch Industrie und Wissenschaft
nicht erreichte ästhetische Wert handwerklich hervorgebrachter Erzeugnisse der »halb-
barbarischen Völker«.3 Assyrische Möbel und das Modell einer karaibischen Hütte
inspirierten seine Lehre von den Urelementen der Baukunst und der Kunst generell.4
Sempers Projekt zur Reform der künstlerischen Gestaltung stützte sich auf eine Typo-
logie von elementaren Formen der Kunstindustrie, exemplarisch die sogenannte Tep-
pichwand, postulierte also eine ursprüngliche soziale Praxis, in der Kunst und Leben
noch ungetrennt wirksam gewesen seien. Diese rückwärts gewandte Utopie einer au-
thentischen künstlerischen Form lässt sich als sozusagen akademische Verfestigung des
von Marx analysierten fetischisierten Bewusstseins verstehen, das den gesellschaftlichen
Reichtum als sinnliche Eigenschaft der Waren vorstellt, da die komplexe Vergesellschaf-
tung der Subjekte in der kapitalistischen Wirtschaftsform sich einer direkten Einsicht
entzieht.
Auch die noch so bruchstückhafte Theoriebildung Eitelbergers lässt sich auf ver-
gleichbare Vorstellungen einer Ungetrenntheit von gestalteter Form und sozialem Le-
ben zurückführen und setzte insofern sowohl das Wirken des Kulturpolitikers als auch
die Etablierung der Wiener Schule und ihren universalhistorischen Kunstbegriff in Gang.
3 G. Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung Nationalen Kunstge-
fühls bei dem Schlusse der Londoner Industrie-Ausstellung, London den 11.
October 1851, Braun-
schweig 1852, S.
11.
4 Seine Ästhetik, auch eine des »Formell-Schönen«, wurde in Alois Riegls Stilsystematik trotz man-
cher Abgrenzungsgesten desselben konsequent fortgesetzt und ist somit ein Grundstein kunsthis-
torischer Theoriebildung. Vgl. R. Prange, Vom textilen Ursprung der Kunst oder : Mythologien
der Fläche bei Gottfried Semper, Alois Riegl und Henri Matisse, in : Textile Theorien der Moderne.
Alois Riegl in der Kunstkritik (hg. von S. Buchmann/R. Frank), Berlin 2015, S.
107–143.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN
Rudolf Eitelberger von Edelberg
Netzwerker der Kunstwelt
- Title
- Rudolf Eitelberger von Edelberg
- Subtitle
- Netzwerker der Kunstwelt
- Authors
- Julia Rüdiger
- Eva Kernbauer
- Kathrin Pokorny-Nagel
- Raphael Rosenberg
- Patrick Werkner
- Tanja Jenni
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20925-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 562
- Category
- Biographien