Page - 3 - in Schachnovelle
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Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach
Buenos Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und
Bewegung der letzten Stunde. Gäste vom Land drängten durcheinander, um
ihren Freunden das Geleit zu geben, Telegraphenboys mit schiefen Mützen
schossen Namen ausrufend durch die Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen
wurden geschleppt, Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, während
das Orchester unerschütterlich zur Deck-show spielte. Ich stand im Gespräch
mit einem Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel auf dem
Promenadendeck, als neben uns zwei- oder dreimal Blitzlicht scharf
aufsprühte - anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt
noch rasch voll Reportern interviewt und photographiert worden. Mein
Freund blickte hin und lächelte. »Sie haben da einen raren Vogel an Bord, den
Czentovic.« Und da ich offenbar ein ziemlich verständnisloses Gesicht zu
dieser Mitteilung machte, fügte er erklärend bei: »Mirko Czentovic, der
Weltschachmeister. Er hat ganz Amerika von Ost nach West mit
Turnierspielen abgeklappert und fährt jetzt zu neuen Triumphen nach
Argentinien.«
In der Tat erinnerte ich mich nun dieses jungen Weltmeisters und sogar
einiger Einzelheiten im Zusammenhang mit seiner raketenhaften Karriere-,
mein Freund, ein aufmerksamerer Zeitungsleser als ich, konnte sie mit einer
ganzen Reihe von Anekdoten ergänzen. Czentovic hatte sich vor etwa einem
Jahr mit einem Schlage neben die bewährtesten Altmeister der Schachkunst,
wie Aljechin, Capablanca, Tartakower, Lasker, Bogoljubow, gestellt; seit dem
Auftreten des siebenjährigen Wunderkindes Rzecewski bei dem
Schachturnier 1922 in New York hatte noch nie der Einbruch eines völlig
Unbekannten in die ruhmreiche Gilde derart allgemeines Aufsehen erregt.
Denn Czentovics intellektuelle Eigenschaften schienen ihm keineswegs solch
eine blendende Karriere von vornherein zu weissagen. Bald sickerte das
Geheimnis durch, daß dieser Schachmeister in seinem Privatleben
außerstande war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen
Fehler zu schreiben, und wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig
spottete, »seine Unbildung war auf allen Gebieten gleich universell«. Sohn
eines blutarmen südslawischen Donauschiffers, dessen winzige Barke eines
Nachts von einem Getreidedampfer Überrannt wurde, war der damals
Zwölfjährige nach dem Tode seines Vaters vom Pfarrer des abgelegenen Ortes
aus Mitleid aufgenommen worden, und der gute Pater bemühte sich redlich,
durch häusliche Nachhilfe wettzumachen, was das maulfaule, dumpfe,
breitstirnige Kind in der Dorfschule nicht zu erlernen vermochte.
Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. Mirko starrte die schon
hundertmal ihm erklärten Schriftzeichen immer wieder fremd an; auch für die
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Schachnovelle
- Title
- Schachnovelle
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 46
- Keywords
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik