Page - 6 - in Schachnovelle
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machen konnte, daß bei einer Simultanpartie er allein gegen die
verschiedenen Spieler zu kämpfen hätte. Aber sobald Mirko diesen Usus*
begriffen, fand er sich rasch in die Aufgabe, ging mit seinen schweren,
knarrenden Schuhen langsam von Tisch zu Tisch und gewann schließlich
sieben von den acht Partien.
Nun begannen große Beratungen. Obwohl dieser neue Champion im
strengen Sinne nicht zur Stadt gehörte, war doch der heimische Nationalstolz
lebhaft entzündet. Vielleicht konnte endlich die kleine Stadt, deren
Vorhandensein auf der Landkarte kaum jemand bisher wahrgenommen, zum
erstenmal sich die Ehre erwerben, einen berühmten Mann in die Welt zu
schicken. Ein Agent namens Koller, sonst nur Chansonetten und Sängerinnen
für das Kabarett der Garnison vermittelnd, erklärte sich bereit, sofern man den
Zuschuß für ein Jahr leiste, den jungen Menschen in Wien von einem ihm
bekannten ausgezeichneten kleinen Meister fachmäßig in der Schachkunst
ausbilden zu lassen. Graf Simczic, dem in sechzig Jahren täglichen
Schachspieles nie ein so merkwürdiger Gegner entgegengetreten war,
zeichnete sofort den Betrag. Mit diesem Tage begann die erstaunliche
Karriere des Schiffersohnes.
Nach einem halben Jahre beherrschte Mirko sämtliche Geheimnisse der
Schachtechnik, allerdings mit einer seltsamen Einschränkung, die später in
den Fachkreisen viel beobachtet und bespöttelt wurde. Denn Czentovic
brachte es nie dazu, auch nur eine einzige Schachpartie auswendig - oder wie
man fachgemäß sagt: blind - zu spielen. Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit,
das Schlachtfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen. Er
mußte immer das schwarz-weiße Karree mit den vierundsechzig Feldern und
zweiunddreißig Figuren handgreiflich vor sich haben; noch zur Zeit seines
Weltruhmes führte er ständig ein zusammenlegbares Taschenschach mit sich,
um, wenn er eine Meisterpartie rekonstruieren oder ein Problem für sich lösen
wollte, sich die Stellung optisch vor Augen zu führen. Dieser an sich
unbeträchtliche Defekt verriet einen Mangel an imaginativer Kraft und wurde
in dem engen Kreise ebenso lebhaft diskutiert, wie wenn unter Musikern ein
hervorragender Virtuose oder Dirigent sich unfähig gezeigt hätte, ohne
aufgeschlagene Partitur zu spielen oder zu dirigieren. Aber diese
merkwürdige Eigenheit verzögerte keineswegs Mirkos stupenden Aufstieg.
Mit siebzehn Jahren hatte er schon ein Dutzend Schachpreise gewonnen, mit
achtzehn sich die ungarische Meisterschaft, mit zwanzig endlich die
Weltmeisterschaft erobert. Die verwegensten Champions, jeder einzelne an
intellektueller Begabung, an Phantasie und Kühnheit ihm unermeßlich
überlegen, erlagen ebenso seiner zähen und kalten Logik wie Napoleon dem
schwerfälligen Kutusow, wie Hannibal dem Fabius Cunctator, von dem Livius
berichtet, daß er gleichfalls in seiner Kindheit derart auffällige Züge von
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Schachnovelle
- Title
- Schachnovelle
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 46
- Keywords
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik