Page - 10 - in Schachnovelle
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ärmliches Eckchen Unsterblichkeit im Winkel eines Schachbuches bedeutet -
einen Menschen, einen geistigen Menschen, der, ohne wahnsinnig zu werden,
zehn, zwanzig, dreißig, vierzig Jahre lang die ganze Spannkraft seines
Denkens immer und immer wieder an den lächerlichen Einsatz wendet, einen
hölzernen König auf einem hölzernen Brett in den Winkel zu drängen!
Und nun war ein solches Phänomen, ein solches sonderbares Genie oder
ein solcher rätselhafter Narr mir räumlich zum erstenmal ganz nahe, sechs
Kabinen weit auf demselben Schiff, und ich Unseliger, für den Neugier in
geistigen Dingen immer zu einer Art Passion ausartet, sollte nicht imstande
sein, mich ihm zu nähern. Ich begann, mir die absurdesten Listen
auszudenken: etwa, ihn in seiner Eitelkeit zu kitzeln, indem ich ihm ein
angebliches Interview für eine wichtige Zeitung vortäuschte, oder bei seiner
Habgier zu packen, dadurch, daß ich ihm ein einträgliches Turnier in
Schottland proponierte. Aber schließlich erinnerte ich mich, daß die
bewährteste Technik der Jäger, den Auerhahn an sich heranzulocken, darin
besteht, daß sie seinen Balzschrei nachahmen; was konnte eigentlich
wirksamer sein, um die Aufmerksamkeit eines Schachmeisters auf sich zu
ziehen, als indem man selber Schach spielte?
Nun bin ich zeitlebens nie ein ernstlicher Schachkünstler gewesen, und
zwar aus dem einfachen Grunde, daß ich mich mit Schach immer bloß
leichtfertig und ausschließlich zu meinem Vergnügen befaßte; wenn ich mich
für eine Stunde vor das Brett setze, geschieht dies keineswegs, um mich
anzustrengen, sondern im Gegenteil, um mich von geistiger Anspannung zu
entlasten. Ich ›spiele‹ Schach im wahrsten Sinne des Wortes, während die
anderen, die wirklichen Schachspieler, Schach ›ernsten‹, um ein verwegenes
neues Wort in die deutsche Sprache einzuführen. Für Schach ist nun, wie für
die Liebe, ein Partner unentbehrlich, und ich wußte zur Stunde noch nicht, ob
sich außer uns andere Schachliebhaber an Bord befanden. Um sie aus ihren
Höhlen herauszulocken, stellte ich im Smoking Room eine primitive Falle
auf, indem ich mich mit meiner Frau, obwohl sie noch schwächer spielt als
ich, vogelstellerisch vor ein Schachbrett setzte. Und tatsächlich, wir hatten
noch nicht sechs Züge getan, so blieb schon jemand im Vorübergehen stehen,
ein zweiter erbat die Erlaubnis, zusehen zu dürfen; schließlich fand sich auch
der erwünschte Partner, der mich zu einer Partie herausforderte. Er hieß
McConnor und war ein schottischer Tiefbauingenieur, der, wie ich hörte, bei
Ölbohrungen in Kalifornien sich ein großes Vermögen gemacht hatte, von
äußerem Ansehen ein stämmiger Mensch mit starken, fast quadratisch harten
Kinnbacken, kräftigen Zähnen und einer satten Gesichtsfarbe, deren
prononcierte Rötlichkeit wahrscheinlich, zumindest teilweise, reichlichem
Genuß von Whisky zu verdanken war. Die auffällig breiten, fast athletisch
vehementen Schultern machten sich leider auch im Spiel charaktermäßig
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Schachnovelle
- Title
- Schachnovelle
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 46
- Keywords
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik