Page - 26 - in Schachnovelle
Image of the Page - 26 -
Text of the Page - 26 -
Und gerade das beabsichtigten sie ich sollte doch würgen und würgen an
meinen Gedanken, bis sie mich erstickten und ich nicht anders konnte, als sie
schließlich ausspeien, als auszusagen, alles auszusagen, was sie wollten,
endlich das Material und die Menschen auszuliefern. Allmählich spürte ich,
wie meine Nerven unter diesem gräßlichen Druck des Nichts sich zu lockern
begannen, und ich spannte, der Gefahr bewußt, bis zum Zerreißen meine
Nerven, irgendeine Ablenkung zu finden oder zu erfinden. Um mich zu
beschäftigen, versuchte ich alles, was ich jemals auswendig gelernt, zu
rezitieren und zu rekonstruieren, die Volkshymne und die Spielreime der
Kinderzeit, den Homer des Gymnasiums, die Paragraphen des Bürgerlichen
Gesetzbuchs. Dann versuchte ich zu rechnen, beliebige Zahlen zu addieren,
zu dividieren, aber mein Gedächtnis hatte im Leeren keine festhaltende Kraft.
Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Immer fuhr und flackerte derselbe
Gedanke dazwischen: Was wissen sie? Was habe ich gestern gesagt, was muß
ich das nächste Mal sagen?
Dieser eigentlich unbeschreibbare Zustand dauerte vier Monate. Nun - vier
Monate, das schreibt sich leicht hin: just ein Dutzend Buchstaben! Das spricht
sich leicht aus: vier Monate vier Silben. In einer Viertelsekunde hat die Lippe
rasch so einen Laut artikuliert: vier Monate! Aber niemand kann schildern,
kann messen, kann veranschaulichen, nicht einem andern, nicht sich selbst,
wie lange eine Zeit im Raumlosen, im Zeitlosen währt, und keinem kann man
erklären, wie es einen zerfrißt und zerstört, dieses Nichts und Nichts und
Nichts um einen, dies immer nur Tisch und Bett und Waschschüssel und
Tapete, und immer das Schweigen, immer derselbe Wärter, der, ohne einen
anzusehen, das Essen hereinschiebt, immer dieselben Gedanken, die im
Nichts um das eine kreisen, bis man irre wird. An kleinen Zeichen wurde ich
beunruhigt gewahr, daß mein Gehirn in Unordnung geriet. Im Anfang war ich
bei den Vernehmungen noch innerlich klar gewesen, ich hatte ruhig und
überlegt ausgesagt; jenes Doppeldenken, was ich sagen sollte und was nicht,
hatte noch funktioniert. jetzt konnte ich schon die einfachsten Sätze nur mehr
stammelnd artikulieren, denn während ich aussagte, starrte ich hypnotisiert
auf die Feder, die protokollierend über das Papier lief, als wollte ich meinen
eigenen Worten nachlaufen. Ich spürte, meine Kraft ließ nach, ich spürte,
immer näher rückte der Augenblick, wo ich, um mich zu retten, alles sagen
würde, was ich wußte, und vielleicht noch mehr, in dem ich, um dem Würgen
dieses Nichts zu entkommen, zwölf Menschen und ihre Geheimnisse verraten
würde, ohne mir selbst damit mehr zu schaffen als einen Atemzug Rast. An
einem Abend war es wirklich schon so weit: als der Wärter zufällig in diesem
Augenblick des Erstickens mir das Essen brachte, schrie ich ihm plötzlich
nach: ›Führen Sie mich zur Vernehmung! Ich will alles sagen! Ich will alles
aussagen! Ich will sagen, wo die Papiere sind, wo das Geld liegt! Alles werde
26
back to the
book Schachnovelle"
Schachnovelle
- Title
- Schachnovelle
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 46
- Keywords
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik