Page - 27 - in Schachnovelle
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ich sagen, alles!‹ Glücklicherweise hörte er mich nicht mehr. Vielleicht wollte
er mich auch nicht hören.
In dieser äußersten Not ereignete sich nun etwas Unvorhergesehenes, was
Rettung bot, Rettung zum mindesten für eine gewisse Zeit. Es war Ende Juli,
ein dunkler, verhangener, regnerischer Tag: ich erinnere mich an diese
Einzelheit deshalb ganz genau, weil der Regen gegen die Scheiben im Gang
trommelte, durch den ich zur Vernehmung geführt wurde. Im Vorzimmer des
Untersuchungsrichters mußte ich warten. Immer mußte man bei jeder
Vorführung warten: auch dieses Wartenlassen gehörte zur Technik. Erst riß
man einem die Nerven auf durch den Anruf, durch das plötzliche Abholen aus
der Zelle mitten in der Nacht, und dann, wenn man schon eingestellt war auf
die Vernehmung, schon Verstand und Willen gespannt hatte zum Widerstand,
ließen sie einen warten, sinnlos-sinnvoll warten, eine Stunde, zwei Stunden,
drei Stunden vor der Vernehmung, um den Körper müde, um die Seele mürbe
zu machen. Und man ließ mich besonders lange warten an diesem
Donnerstag, dem 27.Juli, zwei geschlagene Stunden im Vorzimmer stehend
warten; ich erinnere mich auch an dieses Datum aus einem bestimmten
Grunde so genau, denn in diesem Vorzimmer, wo ich selbstverständlich, ohne
mich niedersetzen zu dürfen zwei Stunden mir die Beine in den Leib stehen
mußte, hing ein Kalender, und ich vermag Ihnen nicht zu erklären, wie in
meinem Hunger nach Gedrucktem, nach Geschriebenem ich diese eine Zahl,
diese wenigen Worte ›27.Juli‹ an der Wand anstarrte und anstarrte; ich fraß sie
gleichsam in mein Gehirn hinein. Und dann wartete ich wieder und wartete
und starrte auf die Tür, wann sie sich endlich öffnen würde, und überlegte
zugleich, was die Inquisitoren mich diesmal fragen könnten, und wußte doch,
daß sie mich etwas ganz anderes fragen würden, als worauf ich mich
vorbereitete. Aber trotz alledem war die Qual dieses Wartens und Stehens
zugleich eine Wohltat, eine Lust, weil dieser Raum immerhin ein anderes
Zimmer war als das meine, etwas größer und mit zwei Fenstern statt einem,
und ohne das Bett und ohne die Waschschüssel und ohne den bestimmten Riß
am Fensterbrett, den ich millionenmal betrachtet. Die Tür war anders
gestrichen, ein anderer Sessel stand an der Wand und links ein
Registerschrank mit Akten sowie eine Garderobe mit Aufhängern, an denen
drei oder vier nasse Militärmäntel, die Mäntel meiner Folterknechte, hingen.
Ich hatte also etwas Neues, etwas anderes zu betrachten, endlich einmal etwas
anderes mit meinen ausgehungerten Augen, und sie krallten sich gierig an
jede Einzelheit. Ich beobachtete an diesen Mänteln jede Falte, ich bemerkte
zum Beispiel einen Tropfen, der von einem der nassen Kragen niederhing,
und so lächerlich es für Sie klingen mag, ich wartete mit einer unsinnigen
Erregung, ob dieser Tropfen endlich abrinnen wollte, die Falte entlang, oder
ob er noch gegen die Schwerkraft sich wehren und länger haften bleiben
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Schachnovelle
- Title
- Schachnovelle
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 46
- Keywords
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik