Page - 28 - in Schachnovelle
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wĂŒrde - ja, ich starrte und starrte minutenlang atemlos auf diesen Tropfen, als
hinge mein Leben daran. Dann, als er endlich niedergerollt war, zÀhlte ich
wieder die Knöpfe auf den MÀnteln nach, acht an dem einen Rock, acht an
dem andern, zehn an dem dritten, dann wieder verglich ich die AufschlÀge;
alle diese lÀcherlichen, unwichtigen Kleinigkeiten betasteten, umspielten,
umgriffen meine verhungerten Augen mit einer Gier, die ich nicht zu
beschreiben vermag. Und plötzlich blieb mein Blick starr an etwas haften. Ich
hatte entdeckt, daĂ an einem der MĂ€ntel die Seitentasche etwas aufgebauscht
war. Ich trat nÀher heran und glaubte an der rechteckigen Form der
Ausbuchtung zu erkennen, was diese etwas geschwellte Tasche in sich barg:
ein Buch! Mir begannen die Knie zu zittern: ein BUCH! Vier Monate lang
hatte ich kein Buch in der Hand gehabt, und schon die bloĂe Vorstellung eines
Buches, in dem man aneinandergereihte Worte sehen konnte, Zeilen, Seiten
und BlÀtter, eines Buches, aus dem man andere, neue, fremde, ablenkende
Gedanken lesen, verfolgen, sich ins Hirn nehmen könnte, hatte etwas
Berauschendes und gleichzeitig BetÀubendes. Hypnotisiert starrten meine
Augen auf die kleine Wölbung, die jenes Buch innerhalb der Tasche formte,
sie glĂŒhten diese eine unscheinbare Stelle an, als ob sie ein Loch in den
Mantel brennen wollten. SchlieĂlich konnte ich meine Gier nicht verhalten;
unwillkĂŒrlich schob ich mich nĂ€her heran. Schon der Gedanke, ein Buch
durch den Stoff mit den HÀnden wenigstens antasten zu können, machte mir
die Nerven in den Fingern bis zu den NĂ€geln glĂŒhen. Fast ohne es zu wissen,
drĂŒckte ich mich immer nĂ€her heran. GlĂŒcklicherweise achtete der WĂ€rter
nicht auf mein gewiĂ sonderbares Gehaben; vielleicht auch schien es ihm nur
natĂŒrlich, daĂ ein Mensch nach zwei Stunden aufrechten Stehens sich ein
wenig an die Wand lehnen wollte. SchlieĂlich stand ich schon ganz nahe bei
dem Mantel, und mit Absicht hatte ich die HĂ€nde hinter mich auf den RĂŒcken
gelegt, damit sie unauffĂ€llig den Mantel berĂŒhren könnten. Ich tastete den
Stoff an und fĂŒhlte tatsĂ€chlich durch den Stoff etwas Rechteckiges, etwas, das
biegsam war und leise knisterte - ein Buch! Ein Buch! Und wie ein SchuĂ
durchzuckte mich der Gedanke: stiehl dir das Buch! Vielleicht gelingt es, und
du kannst dirâs in der Zelle verstecken und dann lesen, lesen, lesen, endlich
wieder einmal lesen! Der Gedanke, kaum in mich gedrungen, wirkte wie ein
starkes Gift; mit einemmal begannen mir die Ohren zu brausen und das Herz
zu hÀmmern, meine HÀnde wurden eiskalt und gehorchten nicht mehr. Aber
nach der ersten BetÀubung drÀngte ich mich leise und listig noch nÀher an den
Mantel, ich drĂŒckte, immer dabei den WĂ€chter fixierend, mit den hinter dem
RĂŒcken versteckten HĂ€nden das Buch von unten aus der Tasche höher und
höher. Und dann: ein Griff, ein leichter, vorsichtiger Zug, und plötzlich hatte
ich das kleine, nicht sehr umfangreiche Buch in der Hand. jetzt erst erschrak
ich vor meiner Tat. Aber ich konnte nicht mehr zurĂŒck. jedoch wohin damit?
Ich schob den Band hinter meinem RĂŒcken unter die Hose an die Stelle, wo
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Schachnovelle
- Title
- Schachnovelle
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 46
- Keywords
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik