Page - 29 - in Schachnovelle
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sie der GĂŒrtel hielt, und von dort allmĂ€hlich hinĂŒber an die HĂŒfte, damit ich
es beim Gehen mit der Hand militÀrisch an der Hosennaht festhalten könnte.
Nun galt es die erste Probe. Ich trat von der Garderobe weg, einen Schritt,
zwei Schritte, drei Schritte. Es ging. Es war möglich, das Buch im Gehen
festzuhalten, wenn ich nur die Hand fest an den GĂŒrtel preĂte.
Dann kam die Vernehmung. Sie erforderte meinerseits mehr Anstrengung
als je, denn eigentlich konzentrierte ich meine ganze Kraft, wÀhrend ich
antwortete, nicht auf meine Aussage, sondern vor allem darauf, das Buch
unauffĂ€llig festzuhalten. GlĂŒcklicherweise fiel das Verhör diesmal kurz aus,
und ich brachte das Buch heil in mein Zimmer - ich will Sie nicht aufhalten
mit all den Einzelheiten, denn einmal rutschte es von der Hose gefÀhrlich ab
mitten im Gang, und ich muĂte einen schweren Hustenanfall simulieren, um
mich niederzubĂŒcken und es wieder heil unter den GĂŒrtel zurĂŒckzuschieben.
Aber welch eine Sekunde dafĂŒr, als ich damit in meine Hölle zurĂŒcktrat,
endlich allein und doch nicht mehr allein!
Nun vermuten Sie wahrscheinlich, ich hÀtte sofort das Buch gepackt,
betrachtet, gelesen. Keineswegs! Erst wollte ich die Vorlust auskosten, daĂ
ich ein Buch bei mir hatte, die kĂŒnstlich verzögernde und meine Nerven
wunderbar erregende Lust, mir auszutrÀumen, welche Art Buch dies
gestohlene am liebsten sein sollte: sehr eng gedruckt vor allem, viele, viele
Lettern enthaltend, viele, viele dĂŒnne BlĂ€tter, damit ich lĂ€nger daran zu lesen
hĂ€tte. Und dann wĂŒnschte ich mir, es sollte ein Werk sein, das mich geistig
anstrengte, nichts Flaches, nichts Leichtes, sondern etwas, das man lernen,
auswendig lernen konnte, Gedichte, und am besten - welcher verwegene
Traum! - Goethe oder Homer. Aber schlieĂlich konnte ich meine Gier, meine
Neugier nicht lÀnger verhalten. Hingestreckt auf das Bett, so daà der WÀrter,
wenn er plötzlich die TĂŒr aufmachen sollte, mich nicht ertappen könnte, zog
ich zitternd unter dem GĂŒrtel den Band heraus.
Der erste Blick war eine EnttĂ€uschung und sogar eine Art erbitterter Ărger:
dieses mit so ungeheurer Gefahr erbeutete, mit so glĂŒhender Erwartung
aufgesparte Buch war nichts anderes als ein Schachrepetitorium, eine
Sammlung von hundertfĂŒnfzig Meisterpartien. WĂ€re ich nicht verriegelt,
verschlossen gewesen, ich hÀtte im ersten Zorn das Buch durch ein offenes
Fenster geschleudert, denn was sollte, was konnte ich mit diesem Nonsens
beginnen? Ich hatte als Knabe im Gymnasium wie die meisten anderen mich
ab und zu aus Langeweile vor einem Schachbrett versucht. Aber was sollte
mir dieses theoretische Zeug? Schach kann man doch nicht spielen ohne einen
Partner und schon gar nicht ohne Steine, ohne Brett. Verdrossen blÀtterte ich
die Seiten durch, um vielleicht dennoch etwas Lesbares zu entdecken, eine
Einleitung, eine Anleitung; aber ich fand nichts als die nackten quadratischen
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book Schachnovelle"
Schachnovelle
- Title
- Schachnovelle
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 46
- Keywords
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik