Page - 35 - in Schachnovelle
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Verhörenden blickten sich manchmal befremdet an. Aber in Wirklichkeit
wartete ich, während sie fragten und berieten, in meiner unseligen Gier doch
nur darauf, wieder zurückgeführt zu werden in meine Zelle, um mein Spiel,
mein irres Spiel, fortzusetzen, eine neue Partie und noch eine und noch eine.
jede Unterbrechung wurde mir zur Störung; selbst die Viertelstunde, da der
Wärter die Gefängniszelle aufräumte, die zwei Minuten, da er mir das Essen
brachte, quälten meine fiebrige Ungeduld; manchmal stand abends der Napf
mit der Mahlzeit noch unberührt, ich hatte über dem Spiel vergessen zu essen.
Das einzige, was ich körperlich empfand, war ein fürchterlicher Durst; es muß
wohl schon das Fieber dieses ständigen Denkens und Spielens gewesen sein;
ich trank die Flasche leer in zwei Zügen und quälte den Wärter um mehr und
fühlte dennoch im nächsten Augenblick die Zunge schon wieder trocken im
Munde. Schließlich steigerte sich meine Erregung während des Spielens und
ich tat nichts anderes mehr von morgens bis nachts - zu solchem Grade, daß
ich nicht einen Augenblick mehr stillzusitzen vermochte; ununterbrochen
ging ich, während ich die Partien überlegte, auf und ab, immer schneller und
schneller und schneller auf und ab, auf und ab, und immer hitziger, je mehr
sich die Entscheidung der Partie näherte; die Gier, zu gewinnen, zu siegen,
mich selbst zu besiegen, wurde allmählich zu einer Art Wut, ich zitterte vor
Ungeduld, denn immer war dem einen Schach-Ich in mir das andere zu
langsam. Das eine trieb das andere an; so lächerlich es Ihnen vielleicht
scheint, ich begann mich zu beschimpfen - ›schneller, schneller!‹ oder
›vorwärts, vorwärts!‹ -, wenn das eine Ich in mir mit dem andern nicht rasch
genug ripostierte. Selbstverständlich bin ich mir heute ganz im klaren, daß
dieser mein Zustand schon eine durchaus pathologische Form geistiger
Überreizung war, für die ich eben keinen andern Namen finde als den bisher
medizinisch unbekannten: eine Schachvergiftung. Schließlich begann diese
monomanische Besessenheit nicht nur mein Gehirn, sondern auch meinen
Körper zu attackieren. Ich magerte ab, ich schlief unruhig und verstört, ich
brauchte beim Erwachen jedesmal eine besondere Anstrengung, die bleiernen
Augenlider aufzuzwingen; manchmal fühlte ich mich derart schwach, daß,
wenn ich ein Trinkglas anfaßte, ich es nur mit Mühe bis zu den Lippen
brachte, so zitterten mir die Hände; aber kaum das Spiel begann, überkam
mich eine wilde Kraft: ich lief auf und ab mit geballten Fäusten, und wie
durch einen roten Nebel hörte ich manchmal meine eigene Stimme, wie sie
heiser und böse ›Schach‹ oder ›Matt!‹ sich selber zuschrie.
Wie dieser grauenhafte, dieser unbeschreibbare Zustand zur Krise kam,
vermag ich selbst nicht zu berichten. Alles, was ich darüber weiß, ist, daß ich
eines Morgens aufwachte, und es war ein anderes Erwachen als sonst. Mein
Körper war gleichsam abgelöst von mir, ich ruhte weich und wohlig. Eine
dichte, gute Müdigkeit, wie ich sie seit Monaten nicht gekannt, lag auf
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Schachnovelle
- Title
- Schachnovelle
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 46
- Keywords
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik