Page - 42 - in Schachnovelle
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aller Heftigkeit dieses Auf und Ab immer nur die gleiche Spanne Raum
ausmaßen; es war, als ob er jedesmal mitten im leeren Zimmer an eine
unsichtbare Schranke stieße, die ihn nötigte umzukehren. Und schaudernd
erkannte ich, es reproduzierte unbewußt dieses Auf und Ab das Ausmaß
seiner einstmaligen Zelle; genau so mußte er in den Monaten des
Eingesperrtseins auf und ab gerannt sein wie ein eingesperrtes Tier im Käfig,
genau so die Hände verkrampft und die Schultern eingeduckt; so und nur so
mußte er dort tausendmal auf und nieder gelaufen sein, die roten Lichter des
Wahnsinns im starren und doch fiebernden Blick. Aber noch schien sein
Denkvermögen völlig intakt, denn von Zeit zu Zeit wandte er sich ungeduldig
dem Tisch zu, ob Czentovic sich inzwischen schon entschieden hätte. Aber es
wurden neun, es wurden zehn Minuten. Dann endlich geschah, was niemand
von uns erwartet hatte. Czentovic hob langsam seine schwere Hand, die
bisher unbeweglich auf dem Tisch gelegen. Gespannt blickten wir alle auf
seine Entscheidung. Aber Czentovic tat keinen Zug, sondern sein gewendeter
Handrücken schob mit einem entschiedenen Ruck alle Figuren langsam vom
Brett. Erst im nächsten Augenblick verstanden wir: Czentovic hatte die Partie
aufgegeben. Er hatte kapituliert, um nicht vor uns sichtbar mattgesetzt zu
werden. Das Unwahrscheinliche hatte sich ereignet, der Weltmeister, der
Champion zahlloser Turniere hatte die Fahne gestrichen vor einem
Unbekannten, einem Manne, der zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre kein
Schachbrett angerührt. Unser Freund, der Anonymus, der Ignotus, hatte den
stärksten Schachspieler der Erde in offenem Kampfe besiegt!
Ohne es zu merken, waren wir in unserer Erregung einer nach dem anderen
aufgestanden. jeder von uns hatte das Gefühl, er müßte etwas sagen oder tun,
um unserem freudigen Schrecken Luft zu machen. Der einzige, der
unbeweglich in seiner Ruhe verharrte, war Czentovic. Erst nach einer
gemessenen Pause hob er den Kopf und blickte unseren Freund mit
steinernem Blick an.
»Noch eine Partie?« fragte er.
»Selbstverständlich«, antwortete Dr. B. mit einer mir unangenehmen
Begeisterung und setzte sich, noch ehe ich ihn an seinen Vorsatz mahnen
konnte, es bei einer Partie bewenden zu lassen, sofort nieder und begann mit
fiebriger Hast die Figuren neu aufzustellen. Er rückte sie mit solcher
Hitzigkeit zusammen, daß zweimal ein Bauer durch die zitternden Finger zu
Boden glitt; mein schon früher peinliches Unbehagen angesichts seiner
unnatürlichen Erregtheit wuchs zu einer Art Angst. Denn eine sichtbare
Exaltiertheit war über den vorher so stillen und ruhigen Menschen
gekommen; das Zucken fuhr immer öfter um seinen Mund, und sein Körper
zitterte wie von einem jähen Fieber geschüttelt.
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Schachnovelle
- Title
- Schachnovelle
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 46
- Keywords
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik