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Einleitung 11
physischen Veränderungen, die uns zu den verschiedenen Lebensaltern der Natur
zurückführen können, in ein einziges Korpus von Zeugnissen vereinen.“15 Ersetzt man
in diesem Zitat aus Georges-Louis Leclerc de Buffons Les époques de la natur den
Terminus „Korpus“ mit jenem der „Sammlung“, dann können diese Zeilen auch als
Anleitung für die Interessen und die Sammeltätigkeit von Kaiser Franz I. Stephan
gesehen werden, der mit seinen Sammlungen von Objekten der Mineralogie, der Bota-
nik und der Numismatik die Grundlagen für die späteren musealen Präsentationen des
kaiser lichen Naturalienkabinetts, des Münzkabinetts und des Physikalischen Kabi-
netts schuf. Seiner Passion ging Franz I. Stephan im eher privaten Rahmen des soge-
nannten Kaiserhauses nach, einem Wiener Palais in der Wallnerstraße, das er zum Ort
des Experiments und der Forschung machte. Private Leidenschaft und professionelle
Wissenschaftlichkeit schlossen sich hier nicht aus, sondern bedingten einander – darauf
verweist nicht zuletzt der Kreis an Wissenschaftlern, die im Auftrag des Kaisers die
Sammlungen aufbauten und betreuten. Nach seinem Tod (1765) wurden die Sammlun-
gen aus dem Kaiserhaus in den sogenannten Neuen Augustinergang in der Hofburg
überführt und einer breiteren Öffentlichkeit als Ausstellungs- und Forschungsraum
nutzbar gemacht. Der Standortwechsel bedeutete nicht nur die definitive Ausgliede-
rung der Sammlungen aus dem privaten Kontext; die architektonisch autonomere
Präsentation der Objekte war auch ausschlaggebend dafür, dass sich die privaten
Sammlungen zu öffent lichen Institutionen wandeln konnten.
Elisabeth Hassmann und Christa Riedl-Dorn haben diese Prozesse der Verwissen-
schaftlichung, Institutionalisierung und Musealisierung in ihren Beiträgen für das
kaiser liche Münzkabinett und Physikalische Kabinett bzw. das Naturalienkabinett in
der josephinischen Zeit nachgezeichnet. Beide Studien konzentrieren sich auf die
Erschließung und Systematisierung der Objekte, auf die besonderen Kommunika-
tionsformen und personellen Netzwerke für den Informationsaustausch und Objekt-
erwerb sowie auf die Publizität der Sammlungen. Sie beschreiben die Erschließung,
Aufstellung, Inventarisierung und Katalogisierung der Sammlungsobjekte sowie die
Ankäufe, Tausche und Forschungsreisen als ausschlaggebende Faktoren, die nicht nur
den Wissenschaftsbetrieb, sondern auch die Öffnung der Sammlungen für ein all-
gemeines Publikum möglich gemacht haben.
Zufall oder nicht, befanden sich die Kabinette im Augustinergang in unmittelbarer
Nähe zur Hofbibliothek und bildeten nicht nur eine räum liche, sondern auch eine
konzeptuelle Einheit. Der Plan, das Areal um die Hofbibliothek mit den wissenschaft-
lichen Kabinetten nicht nur zu einem Zentrum der Gelehrsamkeit, sondern in Einbe-
ziehung der Gemäldegalerie zu einem Zentrum der Wissenschaft und Kunst zu
machen, konnte, wie Elisabeth Hassmann in ihrem Beitrag nachweist, nicht realisiert
15 Buffon 1780, 1: „Comme dans l’Histoire civile, on consulte les titres, on recherche les médailles, on
déchiffre les inscriptions antiques, pour déterminer les époques des révolutions humaines, & et
constater les dates des événements moraux; de même, dans l’Histoire Naturelle, il faut fouiller les
archives du monde, tirer des entrailles de la terre les vieux monuments, recueillir leurs débris et
rassembler en un corps de preuves tous les indices des changements physiques qui peuvent nous faire
remonter aux différents âges de la Nature.“ (Deutsche Übersetzung nach Cassirer 1932, 82.)
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Title
- Schöne Wissenschaften
- Subtitle
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Author
- Nora Fischer
- Editor
- Anna Mader-Kratky
- Publisher
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Size
- 20.9 x 29.3 cm
- Pages
- 306
- Category
- Kunst und Kultur