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Die anatomischen Wachsmodelle des Josephinums 61
Aufklärung und Naturwissenschaft am Florentiner Museum
Wie Joseph
II. hatte auch sein jüngerer Bruder Peter Leopold eine gründ
liche, von der
Philosophie der Aufklärung geprägte Erziehung genossen, bevor er mit 18 Jahren den
toskanischen Thron bestieg. Fasziniert von der experimentellen Naturwissenschaft
seiner Zeit beschloss der junge Regent, sein Großherzogtum wie ein Labor zu führen:
die Gesetze der mensch
lichen Natur seien auf experimentelle Weise zu ergründen und
zur Grundlage des idealen Staates zu machen. Zu den Reformplänen Peter Leopolds
gehörte auch die Gründung eines naturwissenschaft
lichen Museums, das der Öffent-
lichkeit zugänglich sein und der Erziehung der toskanischen Untertanen zu mündigen
Bürgern dienen sollte.3 Der Großherzog bestellte den anerkannten Trentiner Natur-
wissenschaftler Felice Fontana an seinen Hof. Unter Fontanas Leitung wurde die
Naturalien- und Kuriositätensammlung der Medici, die Peter Leopold übernommen
hatte, in eine moderne naturwissenschaft
liche Sammlung umgewandelt und erweitert.
Fontana begab sich auf eine ausgedehnte Reise nach Paris und London, um dort
naturwissenschaft liche Instrumente der renommiertesten Instrumentenbauer Europas
zu erwerben. Die Sammlung, die die Naturgesetze im Museum für die Bürger anschau-
lich machte, sollte eine Gesamtschau der Schöpfung darstellen – von Mineralien,
Pflanzen und Tieren bis hin zu physikalischen, chemischen und astronomischen
Instrumenten. Das Museum öffnete 1775 im Palazzo Torrigiani, unweit der
großherzog lichen Residenz, und war – im Gegensatz zu den herrschaft lichen Kunst-
und Wunderkammern der Frühen Neuzeit – von Beginn an ausdrücklich dem all-
gemeinen Publikum zugänglich.
Auch der Mensch war ein wohlüberlegter Teil dieses gesetzhaften Ganzen, weshalb
eine umfangreiche Sammlung anatomischer Modelle des gesunden mensch
lichen Kör-
pers einen wichtigen Bestandteil der Ausstellung bildete. Der mensch liche Körper
sollte in seiner Schönheit und Komplexität dem Publikum zugänglich gemacht wer-
den, ohne jedoch den problematischen Umgang mit Leichen in Anspruch zu nehmen.
Von der Bologneser Wachsmodellsammlung beeindruckt, veranlassten der Großher-
zog und sein Hofwissenschaftler Fontana die Gründung einer eigenen Wachsmodell-
werkstatt in Florenz. Fontana stelle dafür klassisch ausgebildete Wachsbildhauer ein,
von denen insbesondere Clemente Susini, der im Jahre 1782 die Leitung der Werkstatt
übernahm, für seine akkuraten und eleganten Darstellungen gepriesen wurde.
Die Modelle wurden in der Florentiner Werkstatt in einer Kollaboration von
Künstlern und Wissenschaftlern gefertigt. Als Vorlage dienten einerseits Abbildungen
aus zeitgenössischen anatomischen Veröffentlichungen (zum Beispiel die neuesten
Werke renommierter Anatomen wie Samuel Thomas von Sömmering und William
Hunter), andererseits aber auch Leichen und Leichenteile aus dem Florentiner Kran-
kenhaus Santa Maria Nuova und dem Waisenhaus Ospedale degli Innocenti. Anato-
mische Experten sezierten und präparierten die Körperteile, die dann zusammen mit
3 Zur Geschichte des Museums La Specola vgl. Contardi 2002; zur Wachsmodellsammlung des Muse-
ums vgl. Maerker 2011.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Title
- Schöne Wissenschaften
- Subtitle
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Author
- Nora Fischer
- Editor
- Anna Mader-Kratky
- Publisher
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Size
- 20.9 x 29.3 cm
- Pages
- 306
- Category
- Kunst und Kultur