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Die anatomischen Wachsmodelle des Josephinums 71
gleichermaßen bestaunt wurden.35 Die stumme Schönheit der Wachsfigur wurde als
Inbegriff weib licher Tugenden in Gedichten und Theaterstücken gefeiert. Joseph
Müllers Wachsmuseum am Stock-im-Eisen-Platz zeigte historische Figuren von Mit-
gliedern europäischer Königshäuser bis zu den französischen Revolutionären, aber
auch „eine weib liche lebensgroße Figur, anatomisch bearbeitet, [...] welche eine
schwangere Frau vorstellt, und die gegen doppeltes Legegeld zerlegt gezeiget wird“.
Die Grenzen zwischen anatomischer Belehrung und Pornographie waren dabei
manchmal fließend. So beschrieb ein Diplomat im Jahre 1791 eine Polizeirazzia in der
„Müller’schen Kunstgalerie“: Die vorgefundenen Objekte demonstrierten laut dem
Zeitzeugen „so manche Attitüden, deren Anblick bei den meisten Christen unserer
Zeit die guten Lehren ihrer respektive Fastenprediger über den Haufen geworfen
hätte“. Die Polizei beschloss daher, „daß es wider alle Sittlichkeit sei, irgendeinen
Menschen so etwas sehen zu lassen“ und vernichtete die Sammlung.36 Die Lebensecht-
heit der Wachsfiguren war ein wesent licher Faktor für ihre Anziehungskraft (Tafel 4).
So warb die „Große Kunst-Gallerie“ im Prater: „Man wird bey den Gestalten dieser
Gallerie weder in Hinsicht des Kolorits, der Augen, der Haare noch ihrer Stellungen
und Bekleidungen etwas zu wünschen finden, und [...] wir [werden] unwillkührlich
bei diesen zu der Stimmung gebracht, die der lebendige Character-Ausdruck ihrer
Originell contrastirenden Phisiognomien in der wirk
lichen Welt hervorbringen würde,
wir werden mit dem Lacher lachen, wir werden mit dem Gähner einen kleinen Hang
zum Gähnen nicht unterdrücken können.“37
Im Kontext solcher Attraktionen ist auch der Publikumserfolg der Sammlung der
Josephsakademie zu sehen. Der Satiriker Joseph Richter mokierte sich über die Schau-
lust der Wiener, die sich an „wilden Thieren“, „Riesen und Zwergl“ und „Mißgebur-
ten“ ergötzten. Für Richter war dieser Affekt weiblich konnotiert: Er kritisierte insbe-
sondere die „neugierigen Weiber“. In seinen fiktiven Briefen eines Eipeldauers nahm
Richter die naive Schaulust des Volkes aufs Korn. So beschrieb sein Protagonist, der
provinzielle Eipeldauer, einen Besuch des Josephinums: „Die Täg hat mich mein Frau
Gmahlinn in d’Wahringergassn mitgnommen, wo d’Josephinische Akidemi ist, und da
warn ein Menge schöne Sachen z’sehn, und da warn so viel tausend Menschen da, daß
s’so gar d’Wacht übern Haufen gworfn haben. Da sind ein Menge gläserne Flaschen da
gstanden, und die sind mit Brandwein angfüllt gwesen, und da sind wunderbare Sachen
drin ghenkt, und da sind d’Fraunzimmer vor einigen Flaschen gar nicht weg z’bringen
gwesen. Ein Sechswochenkind ist auch in so einer Flaschen ghenkt; das war aber nicht
so groß, als’s Sechswochenkind von meiner Frau Gmahlinn.“38
35 Richter 1785–1797 (Paunel 1917), xcix.
36 Ebenda, 374.
37 Lotz 1824, 1064.
38 Richter 1785–1797 (Paunel 1917), 247–248.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Title
- Schöne Wissenschaften
- Subtitle
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Author
- Nora Fischer
- Editor
- Anna Mader-Kratky
- Publisher
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Size
- 20.9 x 29.3 cm
- Pages
- 306
- Category
- Kunst und Kultur