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92 Nora Fischer
Am Schluss zum Ganzen: die Historisierung der Kunst
Ein weiterer Aspekt in der Mechel’schen Gemäldeordnung kann mit der Geschichte
der Kunst des Alterthums in Verbindung gebracht werden: Es ging Winckelmann
darum, die Geschichte der Kunst „in der weiteren Bedeutung“45 zu beleuchten, durch
die Kunst die politischen, sozialen, klimatischen und moralischen Prozesse einer Zivi-
lisation zu erfassen. Die Geschichte der Kunst des Alterthums ist bekanntlich als
Kultur
geschichte konzipiert. Winckelmanns Vorstellung des Gleichklangs von Kunst
und Zivilisation folgte konsequenterweise das Argument, dass sich der Fortschritt der
Kunst und der Fortschritt der Kultur eines Landes oder einer Nation gegenseitig
bedingen. Diese Einschätzung einer wechselseitigen Steigerungsbewegung führte in
den deutschsprachigen Ländern im 18. Jahrhundert zu einer Diskussion um einen
eigenen nationalen Stil in der Kunst und dem Versuch, das Ansehen der deutschen
Kunst in ihrer und durch ihre Geschichte zu erhöhen. Dieser Kontext kann auch als
Motiv dafür angesehen werden, dass Mechel erstmals in einer großen fürst lichen Gale-
rie eine Gesamtdarstellung der Deutschen Malerschule präsentiert hat.
Paradoxerweise entzündete sich die anfangs beschriebene, erbittert geführte
Kontro
verse gerade an der Deutschen Schule, mit der Mechel auf eine Aufwertung der
Kultur des Landes oder der Nation abzielte. Dass die Aufstellung abwertend mit
Bezeichnungen wie „Bildermusterkarte“ bedacht wurde, gibt einen Hinweis darauf,
dass der eigent liche Stein des Anstoßes das Arrangement der Gemälde war. Die Kritik
entzündete sich also weniger daran, dass die Deutsche Malerschule gezeigt wurde,
sondern mehr daran, dass Mechel die etablierten Prinzipien barocker Galeriehängun-
gen, die auf Symmetrie, Axialität und Zentralisierung der Gemälde aufbauten, in der
Hängung der Deutschen Schule kippte oder kippen musste.
Die Intention war, die Geschichte der deutschen Kunst – möglichst lückenlos – in
historischer Abfolge der Gemälde von den Anfängen bis zur Gegenwart nachzuzeich-
nen. In der praktischen Umsetzung und mit dem vorhandenen Sammlungsbestand der
kaiser
lichen Sammlung musste dies unweigerlich zu Verwerfungen führen: Um die
deutsche Malerei in einer kontinuier lichen chronologischen Reihenfolge zu dokumen-
tieren, hängte Mechel zwischen hochwertige Originale zweitrangige Werke oder sogar
Kopien. Zudem wurde bei den nach Chronologie gehängten Gemälden wenig Rück-
sicht auf deren Format oder Figurengröße genommen, sodass die Betrachter im Raum
oftmals den Standpunkt wechseln mussten (Abb.
7).
Darauf, dass Mechel zur Sehgewohnheit gewordene Prinzipien vernachlässigen
musste, verweist auch der ungewöhn
liche Umstand, dass wenige Monate vor der Prä-
sentation der Neuaufstellung Staatskanzler Kaunitz persönlich in die Aufstellung ein-
griff, damit – wie er in einem Schreiben an Kaiser Joseph II. schildert – die Hängung
wieder mehr der Norm der Symmetrie entsprechen würde: „Zugleich habe ich ver-
sucht symmetrischer zu hängen, als es bisher der Fall war, denn es ist keinesfalls gleich-
gültig, dass das Auge der Menge gleichermaßen, von dem was es sieht, befriedigt wird,
45 Winckelmann 1764, IX; ders. 1776, II.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Title
- Schöne Wissenschaften
- Subtitle
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Author
- Nora Fischer
- Editor
- Anna Mader-Kratky
- Publisher
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Size
- 20.9 x 29.3 cm
- Pages
- 306
- Category
- Kunst und Kultur