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136 Hans C. Hönes
Gunsten von Systembildung. Die Kristallisierung einer Entwicklungskette, demons-
triert an nur einer Handvoll Beispielen, ist erst möglich, wenn Vielfalt und Reichtum
der römischen Sammlungen legitim beiseitegelassen werden können. Die Sammlung
ist eben kein Archiv (wie Winckelmann es etwa aus seinen Jahren als Bibliothekar bei
Bünau kannte), in dem Vollständigkeit wichtiger als Auswahl ist.42 In dieser Hinsicht
kann man durchaus vertreten, dass Winckelmanns Stilgeschichte ihren Ursprung im
Sammlungsraum hatte, jedoch nicht aufgrund der Verfügbarkeit von Beispielen, son-
dern im Gegenteil dank des Mangels an denselben.
Diese Armut an Material wurde Winckelmann jedoch nicht nur durch die Bestände
der (alles in allem doch recht umfangreichen) Sammlung Albani diktiert;43 sie ist viel-
mehr Ausweis einer rhetorischen Strategie des Kunsthistorikers. Sein Brief an Stosch
wurde in der Forschung bisher so gelesen, als gehe es hier „um nichts anderes als um
die Klärung entwicklungsgeschicht licher Sachverhalte in Bezug auf ägyptische, etrus-
kische oder griechische Kunst“.44 Dies ist sicher nicht falsch, geht es doch primär um
die Darlegung eines abstrakten Modells der Stilgeschichte. Doch wie in der späteren
Ausarbeitung der Geschichte der Kunst des Alterthums behält der Autor auch die
andere Seite der Medaille im Blick, nämlich eine ahistorische, normativ-ästhetische
Dimension der Kunst.
Die geringe Anzahl der diskutierten Bildwerke erklärt sich nur teilweise als Verfah-
ren, das jede Stilstufe exemplarisch illustriert. Ein solches Vorgehen wäre relativ kon-
ventionell, und findet sich etwa in den Specimens of Antient Sculpture, der prestige-
trächtigen Prachtpublikation der Londoner Society of Dilettanti. Hier findet sich als
Schlussvignette ein Stich von vier Münzen, die repräsentativ als Beispiele der vier gro-
ßen Stilepochen stehen, wie sie auch im Text diskutiert werden (Abb. 3).45 Einer der
auffallendsten Aspekte von Winckelmanns Darstellung ist dagegen, wie sich im Laufe
des Argumentationsgangs die Anzahl der Beispiele reduziert. Für die ägyptische Kunst
führt Winckelmanns Brief nicht weniger als acht Skulpturen an, zu den Etruskern nur
noch zwei und zu Griechenland sogar nur ein einziges Werk, ergänzt um einen kurzen
Seitenblick auf den Apollo von Belvedere. Dies steht in antiproportionalem Verhältnis
zur stilistischen Ausdifferenzierung der Kunstgeschichte, wurde die griechische Kunst
doch eigentlich in vier Stilepochen eingeteilt. Ausgerechnet Griechenland ist damit
unterrepräsentiert. Die Dezimierung scheint nicht der Zaghaftigkeit oder gar der
Erschöpfung des Schreibenden geschuldet zu sein, sondern ist vielmehr als ästhetische,
programmatische Entscheidung zu verstehen. Die Reduktion der Beispiele hilft, eine
Bewegung zum Ideal, einen Aufstieg zur Perfektion zu erzählen.
42 Dazu Geimer 2015, 64–88.
43 Zu den Beständen vgl. Bol 1989–1998.
44 Tavernier 1986, 101.
45 Society of Dilettanti 1809, 128 und xli: „the tail-piece of this volume, fig. 4; which, with the three
preceeding figures, may afford a competent idea of the progress of the art“. Vgl. Redford 2008,
170–171.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Title
- Schöne Wissenschaften
- Subtitle
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Author
- Nora Fischer
- Editor
- Anna Mader-Kratky
- Publisher
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Size
- 20.9 x 29.3 cm
- Pages
- 306
- Category
- Kunst und Kultur