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142 Hans C. Hönes
scheinen Winckelmanns Präfe-
renzen dann oft zu jenen Werken
zu tendieren, die eine gewisse
chronologische Komplexität mit
sich bringen, mithin also mehr
als nur eine Stilepoche in sich
tragen. Über den Apollo von
Belvedere schreibt er in der
Geschichte etwa als eine Art his-
torische Kompositfigur, die er,
obwohl sie gänzlich griechisch
ist, doch unter der Kunst zu
Zeiten Neros diskutiert: Das
„höchste Ideal der Kunst“ steht
somit in denkbar verdichteter
Weise neben dem Moment, der
ihren Niedergang besiegelt.63
Einen parallelen Fall stellt jenes
Relief dar, das Winckelmann als
Vignette zur „Vorrede“, ganz zu
Beginn der Geschichte illus-
trierte (Abb. 5). Der Stil des
Werkes legt zunächst nahe, dass
es ein etruskisches Werk ist,
„welchem aber die Bauart des
Tempels widerspricht. Es schei-
net also, daß dieses Werk eine
Arbeit sey, in welcher ein Griechischer Meister, nicht aus der ältern Zeit, den Stil der-
selben nachahmen wollen“.64 Das Relief, an neuralgischer Stelle im Buch platziert,
scheint also ein Kulminationspunkt der Stilgeschichte zu sein. In diesen Passagen ist
der Kunsthistoriker weniger auf stilistische „Reinheit“ fixiert, denn auf überkomplexe
Ballung – ein Prinzip, das die Morphologie, die lange Sequenz der „einfachen For-
men“ aufheben will. Ein ähnlich ahistorisches Paradox ist auch in der Beschreibung
der Villa Albani aufgerufen: Obwohl chronologisch klar das späteste diskutierte Bei-
spiel, ist die griechische Statue der Pallas doch zugleich „nach der Giustinianischen
Pallas die älteste Statue in Rom“.65 Zwei chronologische Extrempunkte finden in
einem Objekt zusammen. Historische Sequenzierung ist damit aufgehoben, doch die
rhetorische Plausibilität dieser Operation gelingt nicht zuletzt durch die Suggestion
eines aufsteigenden Entwicklungsgangs entlang der Schätze der Villa Albani.
63 Ebenda, 814–816.
64 Winckelmann 1764, 238–239.
65 Winckelmann 1759–1763 (Rehm 1954), 138.
Abb. 5: Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst
des Alterthums, 1776, Vorrede (Universitätsbibliothek
Heidelberg)
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Title
- Schöne Wissenschaften
- Subtitle
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Author
- Nora Fischer
- Editor
- Anna Mader-Kratky
- Publisher
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Size
- 20.9 x 29.3 cm
- Pages
- 306
- Category
- Kunst und Kultur