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VI.6 Steiermark: Graz – Armenhaus, Bürgerspital, Lazarett (Kommentar Nr. 55–63) 187
Als mit Abstand größte Versorgungsanstalt in der Stadt galt das landesfürstliche, im
Jahr 1724 gegründete und in der Murvorstadt am Gries erbaute Armenhaus. Es war
gleichsam die letzte Bastion, „die letzte Zuflucht und Ort“ für alle Menschen, die sonst
nirgendwo ein Zuhause fanden23. Erste Pläne zur Errichtung einer derartigen Anstalt
hatte bereits Leopold I. erwogen, welcher 1676 der innerösterreichischen Hofkammer
den Befehl erteilt hatte, ein geeignetes Grundstück ausfindig zu machen, um die Bettler
von der Straße zu holen und mit öffentlichen Arbeiten zu beschäftigen. Allerdings blieb es
vorerst bei Absichtserklärungen. Die Fertigstellung und Eröffnung der weitum bekannten
Institution erfolgte im Jahr 1727, doch möglicherweise wurden die ersten Insassen bereits
Anfang 1726 in den früher fertiggestellten Gebäudeteilen untergebracht. Der Landes-
fürst, die Landstände, die Stadt Graz, private und adelige Spender sowie die Einwohner-
schaft der Stadt hatten finanzielle Beiträge geleistet, um den Bau überhaupt finanzieren zu
können. Auch wenn durchaus karitative Elemente letztendlich überwogen und man die
Betreuung von Kindern, Invaliden, alten und auch behinderten Menschen in den Vorder-
grund stellte, so dachte die 1724 ins Leben gerufene „Hofcommission für Landessicher-
heitssachen und Besorgung der weltlichen Stiftungen“ zugleich an eine erfolgreiche Besei-
tigung des Dauerproblems Straßenbettel. Die Aufnahme in das Haus erfolgte daher nicht
nur freiwillig, sondern konnte überdies von Amts wegen und damit gegen den Willen der
Person verfügt werden. Allerdings zeugen die zahlreichen erhaltenen Bittgesuche bedürf-
tiger Frauen und Männer von der Hoffnungslosigkeit ihrer Situation, die sie zwang, um
„freiwillige“ Aufnahme in das Armenhaus zu supplizieren24.
Diese Ausrichtung auf eine unterschiedliche Klientel und das Herumlavieren der Be-
hörde mit öffentlichen Geldern, die nicht primär den Bettlern zu Gute kommen sollten,
führte zur interessanten Fragestellung, ob das Grazer Armenhaus nun eher eine Internie-
rungs- oder doch eher eine Versorgungsanstalt gewesen sei25. Für Ersteres spricht die in
der Regul und Obligation (1728) vorgeschriebene Arbeitspflicht für alle Hausbewohner,
welche die Arbeitsbefehle des Hausvaters und der -mutter ohne Widerred schleinig vollzie-
hen26 mussten. Neben Haus- und Pflegearbeiten sollten die Männer und Frauen ab dem
Jahr 1737 gemeinsam mit den Insassen des Zucht- und Arbeitshauses27 auch in der Tuch-
manufaktur arbeiten, die jedoch auf erbitterten Widerstand der Grazer Tuchmacherzunft
stieß. Da es an Geld und Material mangelte, konnten in der Regel nur die Insassen des
Zuchthauses beschäftigt werden, bisweilen wurden sie von Bewohnern des Arbeitshauses
beaufsichtigt. Die Einnahmen fielen daher in den Jahren 1730 bis 1734 nur dürftig aus
(ledig 150 fl. pro Jahr), deutlich mehr Erträge erbrachte die Anstaltsbäckerei mit ca. 420
fl. (um 1730). Insgesamt spielten die Arbeitsleistungen der Armen in den Gesamtjahres-
rechnungen nur eine untergeordnete Rolle, wesentlich waren hingegen die Kapitalzin-
sen, die Almosen und die Gratis-Sachleistungen sowie indirekte Steuern zugunsten des
Armenhauses (z. B. Kaffeeaufschlag). Analysiert man die Tags-Ordnung der Anstalt28, so
wird ohnedies rasch ersichtlich, dass im Gegensatz zum Zucht- und Arbeitshaus nie eine
Arbeitsanstalt im eigentlichen Sinne geplant war, denn die meiste Zeit des Tages sollte wie
23 Hammer-Luza, Publico 204.
24 Ebd.; Watzka, Arme, Kranke, Verrückte 121.
25 Watzka, Arme, Kranke, Verrückte 120–129.
26 Edition Nr. 55 [7] , S. 667.
27 Ausführlich zur Thematik Hammer-Luza, Grazer Zucht- und Arbeitshaus 131–166.
28 Edition Nr. 55, S. 666–670, Tagsordnung; Haydinger, Fürsorge 90–92; Huber-Reismann,
Krankheit 344.
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Spital als Lebensform
Österreichische Spitalordnungen und Spitalinstruktionen der Neuzeit, Volume 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Spital als Lebensform
- Subtitle
- Österreichische Spitalordnungen und Spitalinstruktionen der Neuzeit
- Volume
- 1
- Authors
- Martin Scheutz
- Alfred Stefan Weiß
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79639-8
- Size
- 17.5 x 24.7 cm
- Pages
- 432
- Category
- Medizin