Page - 14 - in Österreichs Staatsidee
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oder ob sie ein bloßer Begriff, eine leere Abstraction sei? Und
wenn, wie ich hoffe, Niemand ihre Realität läugnen wird, so ent-
steht die weitere Frage: Ist eine jede Nation, in ihrer Gesammt-
heit, eine moralische und rechtliche Person, oder nicht? Ich glaube,
daß unter Denkern wenigstens keine Eontroverse darüber entstehen
kann. Nationen wie z. B. die Böhmen, Polen, Ungarn, Deutsche
usw. sind wirtliche Realitäten, sind besondere und lebendige Ganze,
von denen ein jedes sein besonderes Bewußtsein, sein Wollen, seine
eigenen Interessen und daher auch Verpflichtungen besitzt; kurz
sie sind wirkliche moralische und rechtliche Personen. Außerdem
wird Niemand lüugnen, daß z. B. die Deutschen, die in Oester-
reich, Preußen, Rußland und Frankreich leben, ihre gemeinsamen
nationalen Interessen haben, bezüglich deren sie im vollkomenen
und freundschaftlichen Einverständnisse leben können, wenn sich
auch ihre Regierungen und somit die genannten Staaten selbst wechsel-
seitig befehden und bis auf's Blut gegen einander wüthen sollten.
Daß nun die Lehre vom internationalen Rechte im oben er-
wähnten Sinne der verschiedenartigen Stämme bisher noch nicht
cultivirt wurde, muß offenbar dem Umstände zugeschrieben werden,
daß die bisherigen wissenschaftlichen Bearbeiter dieses Rechtes,
Engländer, Franzosen, Holländer, Italiäner und Deutsche, in
solchen Ländern wohnten, in denen die Begriffe „Nation" und
„Staat" mehr oder weniger zusammenfallen, daß sich in Oefter-
reich der Geist der Initiative in der Wissenschaft vor dem I.
1848 etwa nur in der slavischen Philologie und theilweise auch
in den sogenannten soionoes sxaetvg kundgab, endlich daß das
Rationalitätenprincip in unserem Sinne erst in unseren Tagen
als mächtiger Factor sich erwies, nachdem es zuerst im Böller-
kämpfe gegen Napoleon I geweckt wurde und mit überwiegender
Gewalt auf den weltgeschichtlichen Schauplatz erst seit dem I. 1848
anfgetreten ist. Soviel mir bekannt ist, war der Slaven- Congres
in Prag in demselben Jahre die erste Versammlung von gebildeten
Männern, welche darüber und besonders über das Princip der
Gleichberechtigung aller Nationalitäten ex proteggo verhandelte
und zugleich feierlich aussprach, daß der jetzige österreichische
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book Österreichs Staatsidee"
Österreichs Staatsidee
- Title
- Österreichs Staatsidee
- Author
- Franz Palacký
- Publisher
- I. L. Kober Verlag
- Location
- Prag
- Date
- 1866
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 14.7 x 21.5 cm
- Pages
- 110
- Categories
- Geschichte Vor 1918