Page - 88 - in Österreichs Staatsidee
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größer zeigte sich die Unzufriedenheit in allen unabhängigen nicht-
deutschen Blättern und selbst in der Fremde erhob sich so manche
Stimme, die sie keineswegs günstig beurtheilte. Alle Kenner stim-
men jedoch in der Überzeugung überein, daß diese Angelegenheit
so recht die Cardinal- und Lebensfrage Österreichs bilde, von deren
mehr oder weniger günstigen Entscheidung zunächst sein innerer
Friede und daher auch seine Lebensfähigkeit und seine gesammte
Machtstellung dem übrigen Europa gegenüber abhängt. In dieser
Beziehung hat diese Frage zugleich eine allgemein europäische Be-
deutung und man darf sich daher nicht wundern, daß ihr auch
fremde Staatsmänner ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben.
Die octroyirte Verfassung ist auf einer so breiten Basis er-
baut, daß man in ihr, ohne das Ganze wesentlich zu gefährden,
immerhin verschiedene Scheidewände umlegen und wichtige innere
Umbauten vornehmen kann; berücksichtigt man den § 123, der
eine theilweife Veränderung derselben und daher auch ihre Revi-
sion am nächsten Reichstage als zulässig erklärt, so kann man eine
solche Einrichtung immerhin nur lobenswerth finden. Weil nun
diese Abänderungen, bevor sie im Wege der Legislative als An-
träge eingebracht werden, gründlich durchdacht und allseitig erwogen
werden müssen, so wird man es hoffentlich auch uns nicht übel
nehmen, daß wir unsere Meinung über eine so hochwichtige An-
gelegenheit der Öffentlichkeit vorlegen. Es versteht sich wohl von
selbst, daß uns, falls wir Etwas vorschlagen sollen, was wir für
besser halten, auch frei stehen muß nachweisen zu können, wann»
dasselbe nicht unbedingt gut ist und warum wir uns Abänderun-
gen wünschen. >
Zur Orientirung auf diesem weiten Gebiete müssen wir einige
Vemerlungen über den Charakter unseres Jahrhunderts und un-
seres Reiches zugleich voranschicken. Das nationale Bewußtsein
war wohl seit jeher bei allen Böllern ein nicht unbedeutende«
Moment in ihrem öffentlichen und Staattleben; besonders bei uns
in Böhmen stand es fast in allen Jahrhunderten so zu sagen i«
Vordergrund der Geschichte, ausgenommen etwa das XVI und
XVII Jahrhundert; in unseren Tagen strebt aber dasselbe in ganz
Mitteleuropa nach einer solchen Macht und Ausdehnung, wie es
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Österreichs Staatsidee
- Title
- Österreichs Staatsidee
- Author
- Franz Palacký
- Publisher
- I. L. Kober Verlag
- Location
- Prag
- Date
- 1866
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 14.7 x 21.5 cm
- Pages
- 110
- Categories
- Geschichte Vor 1918