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Februar 1848
[Wien] 21. februar
ich erhalte ziemlich regelmäßige und vollständige Berichte aus den Provin-
zen, wo man aber bis jetzt von dem, was nun in der hauptstadt vorgeht,
noch nichts weiß, und durch den unklaren nimbus einer starken und eigen-
willigen regierung, wie sie etwa zu kaiser franzens Zeiten existirt haben
mag, noch nicht durchgedrungen ist. diese correspondenzen kommen mir
auf den verschiedensten Wegen zu: durch leute, die ich nie gesehen habe
etc. für meinen Briefwechsel mit fritz deym habe ich, seit sein hausin-
spektor, zugleich kaiserlicher Beamter, in der Angst seines herzens uns den
dienst aufsagte (da ich ihn einmahl in seiner kanzley aufsuchte, entstand,
wie deym mir später erzählte, ein halloh unter seinen mitbeamten, daß
dem armen teufel ganz bange wurde, ich dachte nicht, daß ich so bekannt
sey), eine sentimentale gouvernante, früher in seinem hause, als vermittle-
rinn benützt, welche von enthusiasmus und Bewunderung überströmt, wäh-
rend sie wieder tags darauf in tausend Ängsten schwebt. Anderseits muß
ich aber sehr vorsichtig seyn, indem die Polizey noch nie so argwöhnisch und
erbittert war als jetzt in den letzten Augenblicken eines verscheidenden sy-
stems, und man durchaus nicht wissen kann, wohin die schläge fallen, wel-
che sie in der Wuth der verzweiflung führt. so ist neulich im hans Jörgel ein
merkwürdiger 5 seiten langer Artikel gegen die Börsenspeculanten erschie-
nen, worin diese als mordbrenner qualificirt werden und förmlich zu einem
massacre derselben aufgefordert wird.1 dieser Artikel, auf höheren Befehl
geschrieben, sollte auf sedlnitzkys ausdrücklichen Auftrag in allen hiesigen
Blättern abgedruckt werden, was jedoch rothschild im letzten Augenblicke
verhinderte. man kann sich die Wuth denken, die diese ungeschicklichkeit
hervorgerufen hat. die neulich arretirten Baissiers und noch viele andere
sollen ausgewiesen werden, alle diese déplorabeln maßregeln dienen nur
dazu, die schwäche und furcht der regierung zu zeigen und eine klasse zu
erbittern, welche jetzt denn doch die mächtigste ist.
die übrigen Zustände werden immer schlimmer, die furcht vor einem
Bankerott, das mißtrauen in die Bank nehmen überhand, die staatspapiere
fallen und wären, wenn nicht rothschild sie hielte, längst unter 98, wobey das
letzte Anlehen null und nichtig würde, mit dem russischen Anlehen scheint es
nun denn doch nichts werden zu wollen, da der kaiser nicolaus nicht darauf
eingehen will, und so wird man noch die letzten 30 millionen des tilgungs-
1 komische Briefe des hans-Jörgel aus gumpoldskirchen an seinen schwager in feselau
über Wien und seine tagesbegebenheiten, 17. Jg., 4. heft v. 15.2.1848, 3–12: erster Brief:
die Börsespekulanten in der grünangergassen – eine neue gattung der mordbrennerei
etc. darin heißt es (9): „Was der Quacksalber und Winkelschreiber is, der nur aus der
dummheit der Andern nutzen zieg’n will, dös is der Börsespekulant.“
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien