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84 Tagebücher
deutschland sprechen und der Bürgerkrieg in Böhmen zwischen ihnen und
den deutschen (welche letztere sich von Böhmen lossagen wollen) imminent
wird, halte ich eine conciliatorische, über den nationalitäten stehende regie-
rung nicht mehr für möglich. ich will, unter gewissenhafter Achtung der von
der verfassung garantirten gleichen rechte jedes volksstammes, das recht
des deutschen Bundes mit Waffengewalt behaupten, weil ich im gegentheile
oesterreichs Zerfall erblicke, daher will ich einerseits innigen Anschluß an
deutschland, andererseits an die magyaren, welche mit uns einen feind ha-
ben, und zugleich eine nationale reconstituirung von gallizien, en attendant
der Wiederherstellung Polens als vorzaun gegen rußland. daß sich unter
der maske des czechismus viel reactionäre tendenz, namentlich im Adel,
welchem das liberale Bürgerthum deutschlands zuwider ist, verbirgt, ist
mir erwiesen.1
übrigens sehe ich aus Allem immer klarer, daß, so geachtet und populär
ich auch im Publicum, und zwar in allen theilen der monarchie bin (so eben
erhielt ich die mittheilung von meiner Wahl in stein in krain, mit görz und
Wieden nun die fünfte Wahl, die auf mich gefallen ist), so wenig man mich in
den höhern regionen leiden zu können scheint, ich wurde ebensowenig bey
den vorarbeiten über die jetzige ministercombination als bey irgend einem
der zahlreichen comités und Berathungen beygezogen, welche von der re-
gierung veranlaßt wurden. ich bin ihnen noch zu durchgreifend, zu wenig
Büreaukrat, und es gibt noch immer leute, welche dumm genug sind, mir
die ganze revolution zuzuschreiben.
ich wollte morgen Abends abreisen, wurde aber durch alle diese dinge
abgehalten und werde nun am 13. abfahren, mit schwerem herzen, in die-
sem Augenblicke der crisis Wien verlassen zu müssen, ohne eine klare idee
dessen, was in frankfurt geschehen soll, denn eine solche hat niemand, we-
der in noch außer oesterreich, und ohne zu wissen, was unsere regierung
für Ansichten hat, denn sie hat gar keine, wir haben keinen minister des
Auswärtigen, und Pillersdorf ist gar keine politische capacität und sieht die
Bedeutung der frankfurter sache nicht ein.
gestern war ich in neustadt, wo mir meine Wähler im hirschen ein dé-
jeuner gab[en] mit der gewöhnlichen Begleitung von reden, toasts etc., im
ganzen war ich mit dem geiste der versammlung, meist industrielle, zufrie-
den.
1 „die böhmischen Aristocraten, die sich der czechischen Bewegung anschließen, sind blind
und rennen in ihr verderben, ihr motiv ist Antipathie gegen das, was seit 15/3 in Wien ge-
schehen ist, die Böhmen aber werden, wenn sie mit ihrer hülfe ihr Ziel erreicht haben, sie
über Bord werfen, denn die Bewegung der slaven ist noch demokratischer als die unsere“
(Andrian an seine Schwester Gabriele, 10.6.1848; K. 114, Umschlag 662).
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien