Page - 90 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Volume II
Image of the Page - 90 -
Text of the Page - 90 -
90 Tagebücher
scheint hauptsächlich in folge der Auflösung des centralcomités der natio-
nalgarde, dieser heillosen institution, welche ich gleich bey ihrem entstehen
vor 14 tagen als die größte gefahr für uns bezeichnet hatte, die studenten
und mit ihnen ganze massen von Arbeitern zogen bewaffnet und mit gela-
denen gewehren vor die Burg, die thore waren gesperrt, militär auf den
glacis, die nationalgarde schwankte oder machte gemeinschaftliche sache
mit den studenten, nebstdem hatte sie keine munition, kurz, am 16. Abends
gab Pillersdorf, der feige hund, nach und bewilligte Alles: 1. der reichstag
ist ein constituirender, daher die verfassung widerrufen, 2. diese constitui-
rende versammlung wird aus einer kammer bestehen, 3. das militär darf
nicht mehr anders als auf Ansuchen des chefs der nationalgarde ausrücken,
4. das centralcomité ist anerkannt, und so fort. so wären wir denn zwey
schritte von der republik, dahin hat es dieses gottverlassene ministerium
gebracht.
ich lief gleich zu schmerling und fand ihn bey colloredo, der heute nach-
mittag abreiste. nach und nach kamen noch mühlfeld, mayern etc. mit ih-
ren Briefen, es wurde heftig hin und her gesprochen, meine erste idee, die
ich nur gegen schmerling aussprach, war, daß wir beyde an den erzherzog
franz carl schreiben sollten, doch überlegte ich später, daß die entfernung
dazu zu groß und daher die Zeit zu kurz sey, wir wollen nun die morgigen
nachrichten abwarten.
ich zittere vor den nächsten nachrichten aus Böhmen und mähren, auch
aus den übrigen Provinzen, diese werden sich dem terrorismus Wiens nicht
gutwillig unterwerfen, ja für Böhmen dürfte dieses ein willkommener Anlaß
zum offenen Aufstande seyn, im loyalen sinne, wie wird sich dann unsere
stellung zu deutschland gestalten? was wird rußland thun? Wären wir un-
ter uns einig, so könnte vielleicht durch eine constituante eine für uns weit
passendere verfassung entstehen, als es die vom 25. April war, aber der Zer-
fall der monarchie war nie so imminent wie jetzt. gott weiß, wie sich die
dinge entwickeln werden, ich zittere nur für meine armen schwestern.
ich habe eine schlimme Ahnung, daß wir, d.h. schmerling und ich, näch-
ster tage ins ministerium berufen werden, ist es jetzt noch möglich, etwas
zu thun und die monarchie zu retten? ich glaube es kaum, wir werden alle
Phasen der französischen revolution von 1789, nur schneller, durchmachen
– sic voluere dii.
heute war glücklicherweise keine sitzung, jedoch mußte ich in meiner
Abtheilung präsidiren, wo wir nach mancher discussion mit der Prüfung der
uns zugewiesenen Wahlen zu ende kamen, nur eine ward formell beanstän-
det.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien