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Mai 1848
[frankfurt] 21. mai Abends
das geht mit riesenschritten vorwärts. diesen Abend 11 uhr, im nach-
hausekommen von einer nachmittagsfahrt nach homburg, wohin ich mit
schmerling gefahren war, und wir mit nobili, vrintz, dörnberg etc. eine
recht hübsche Promenade machten, fanden wir eine mittheilung von roth-
schild, welcher so eben eine staffette von Wien erhalten hatte. kaiser, kai-
serinn, erzherzog franz carl, erzherzogin sophie und die 3 Prinzen1 haben
am 17. Abends unversehens Wien verlassen und die route nach innsbruck
eingeschlagen! – – so verkündiget eine amtliche kundmachung der „interi-
mistischen minister“ (denn sie hatten am 16. Abends alle ihre entlassung
eingereicht, damit seine majestät männer, welche das öffentliche vertrauen
genießen, berufen möge).
Also auch die flucht nach varennes!2 doch hoffe ich und bin es überzeugt,
daß diese glücklicher, wenigstens für die Person des monarchen, enden
werde. hätte der kaiser energische männer um sich, so könnte diese flucht
ein glück werden, denn die Provinzen würden sich um den thron schaa-
ren gegen das rebellische Wien, in dessen mauern jetzt vielleicht selbst eine
reaction gegen die unruhestifter ausbrechen dürfte, denn ich wenigstens
glaube, daß die Anhänglichkeit an das regentenhaus noch tief im Wiener
wurzelt, jedenfalls ist das ministerium zu unbedeutend, um eine proviso-
rische regierung werden zu können, selbst wenn es dieses wollte, endlich
ist Wien nicht die monarchie, wie Paris. Aber ich fürchte hier wieder wie
überall die schwäche und halbheit, kehrt der kaiser zurück, so ist Alles ver-
loren, und wir haben die republik und vielleicht einen königsmord, gewiß
aber den Zerfall der monarchie.
[frankfurt] 22. mai Abends
Was ich gestern erwartete, ist geschehen, eine totale reaction in Wien, man
hat die druckereyen gestürmt, ein paar Zeitungsredacteurs wurden nur mit
mühe der volkswuth entrissen, die nationalgarde hat sich unter den Befehl
des fml Auersperg gestellt, das centralcomité soll aufgelöst werden, und
alle fremden Wien verlassen, dem kaiser sind hoyos, Wilczek und mehrere
deputationen nachgeschickt worden, er ist mittlerweile am 18. Abends in
salzburg angekommen und nach innsbruck weiter gereist und überall mit
Jubel empfangen worden. gott sey dank.
1 die drei jüngeren söhne von franz carl und sophie, ferdinand max, karl ludwig und
ludwig viktor. der älteste sohn, der spätere kaiser franz Joseph, war seit ende April im
hauptquartier der italienischen Armee in verona.
2 der missglückte fluchtversuch ludwig Xvi. und seiner familie im Juni 1791.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien