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Tagebücher102
volkes den Anfang zu machen, wo wenig oder gar keine meinungsverschie-
denheiten stattfinden dürften, und an die kitzlicheren principiellen fragen
des reichsoberhauptes und der competenz der centralregierung erst später
zu schreiten.
[frankfurt] 1. Juny Abends
gestern war die definitive Präsidentenwahl. gagern erhielt 499 von 513
stimmen, soiron wurde mit 408 stimmen erster und ich mit 310 zweyter
vicepräsident. meine Wahl war, wie ich schon neulich sagte, von der ma-
jorität beschlossen worden und wäre mit weit größerer mehrheit durchge-
gangen, wenn nicht möring, der überhaupt hier ein zweydeutiges spiel, ei-
gentlich dasselbe, welches er in Wien die letzte Zeit über gespielt hat, spielt,
sich als candidaten aufgeworfen hätte. das sogenannte junge oesterreich,
bestehend aus individuen wie giskra, reitter, kaiser, Wiesner etc. schloß
sich ihm an, und die linke, mit welcher er und sein freund meyern (ein
hohler fader theoretiker und Phrasenmacher, aber wie mir scheint wenig-
stens ein ehrlicher wohlmeinender mensch, was möring nicht ist) schon
seit Anfang kokettiren, faßte diese candidatur, welche im letzten Augen-
blicke auftauchte, mit gewohnter geschicklichkeit auf, um die stimmen zu
spalten und vielleicht so rob. Blum durchzusetzen. das war auch das ein-
zige, was ich besorgte, denn um meine ernennung zum vicepraesidenten
war mir wirklich nicht viel zu thun. noch während der sitzung ging möring
von Bank zu Bank, um zu intriguiren, aber auch meine freunde (nicht ich)
waren thätig, und so erhielt ich gleich beym ersten scrutinium 310, Blum
116 und möring 66 stimmen. man hatte mich im holländischen und deut-
schen hofe als Aristocraten, mann der äußersten rechten, reactionär etc.
verdächtigt,1 meine Wahl war daher ein wahrer Partheienkampf, und sie
wurde daher mit großem Beyfalle der rechten und des centrums begrüßt.
ich sprach von der tribune einige Worte des dankes und meiner Anhäng-
lichkeit an die deutsche sache.
so wenig Werth ich früher auf diese ernennung gelegt hatte, so fühle ich
doch jetzt, daß sie für mich eine äußerst ehrenvolle ist, und meinen nahmen
vor ganz deutschland hinstellt und ihn unauflöslich mit dem großen deut-
schen verfassungswerke verbindet, meine sonstige stellung in der kammer
wird dadurch allerdings bequemer (da ich nun kaum mehr sprechen kann),
aber auch nicht einflußreicher, sie hat das gute, daß ich mich nicht so un-
bedingt auszusprechen brauche, was mir hier ganz angenehm ist, da hier
doch nicht das terrain ist, auf welchem meine Zukunft liegt, daß ich dagegen
1 im deutschen hof hatte die linke, im holländischen hof die äußerste linke der national-
versammlung ihren sitz.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien