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Juni 1848
dann die Anhänger der 4 Anträge, welche vom centrum und von der rech-
ten ausgehen, zusammen und wählten je 2 redner.
Wäre dadurch die weitere discussion nicht abgeschnitten, so hätte auch
ich gesprochen, da ich mich auch eingezeichnet hatte. da ich bisher noch gar
nicht gesprochen habe, so hielt ich es für angemessen, bey dieser wichtigen
gelegenheit zum ersten mahle aufzutreten, denn wenn man auch in kleine-
ren conferenzen weit mehr wirken und sich eine viel einflußreichere stel-
lung machen kann als durch das Auftreten in der öffentlichen versammlung
(was sich auch bey mir vollkommen bewährt), so ist es doch des größeren Pu-
blicums wegen fast nothwendig, auch als öffentlicher redner seine sporen zu
verdienen, namentlich bey mir, der ich die dritte stelle in der versammlung
einnehme, ohne daß dieses [sic] etwas Besonderes von mir weiß, es thut mir
daher fast leid, daß ich dießmal nicht zum sprechen gekommen bin.
die dreyheit ist nun nach einigen schwankungen définitiv verlassen, den
Ausschlag gab vincke’s rede, welcher sich, und mit ihm die rechte, für ei-
nen, ja sogar ziemlich deutlich für erzherzog Johann erklärte. Am schwer-
sten wollten einige Altpreußen, besonders aber die Bayern anbeißen, letztere
aber ergaben sich, als sie hörten, daß kein preußischer Prinz, also kein Aka-
tholik gemeint sey. dagegen versprachen wir, einen Preußen, etwa Wran-
gel, zum oberfeldherrn zu benennen. Wer am meisten für die einheit war,
das waren die kleinern deutschen staaten (z.B. Welcker etc.), denen es ge-
waltig in die nase roch, daß in der dreyheit Bayern vertreten seyn sollte,
überhaupt ist bey dieser sache der alte Particularismus wieder ganz hübsch
zum vorscheine gekommen. von gagern ist jetzt kaum mehr die rede, da er
selbst erklärt hat, daß er die Wahl nicht annehmen könne, und da von meh-
reren seiten, u.a. von oesterreich (möring, welcher jetzt mit uns kokettirt,
wahrscheinlich weil er denkt, unter der Präsidentschaft erzherzog Johanns
etwas für sich zu erwischen) und Preußen, die unmöglichkeit dargestellt
wurde, einen Privatmann (und wer kennt gagern in oesterreich?) an die
spitze deutschlands zu stellen.
die linke hat sich in der ganzen debatte ziemlich kläglich gezeigt, diesen
eindruck haben Alle trotz der hohlen tiraden der linken und des wüthen-
den Beyfalls der gallerieen (welche trotz aller gegenanstalten täglich in-
solenter werden, neulich wurde radowitz ausgepfiffen etc.) mit sich nach
hause genommen. sie benimmt sich aber höchst ungeschickt und miserabel,
in allen nationalen fragen ist sie förmlich antideutsch, zeigt enthusiasmus
für italien, für Polen, ja für Böhmen, kurz für jeden feind deutschlands, bet-
telt laut und in geheimer intrigue um die Allianz frankreichs etc., und das
elende gesindel auf den gallerieen und anderwärts bellt ihnen nach.
vorgestern wurde per Acclamation ausgesprochen, daß ein Angriff auf
triest als eine kriegserklärung an deutschland angesehen werden würde,
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien