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April 1854
da zu bleiben und unserer Bagage einen Bothen entgegenzuschicken, sie zu
holen. Murrend und unwillig gab mein Yankee nach, als es sich aber zeigte,
das haus sey kein kloster, sondern die Wohnung zweyer franzosen, die
hier eine seidenspinnerey haben, war er nicht mehr zu halten. die leute
nahmen uns mit der größten liebenswürdigkeit auf, er aber saß da wie ein
Büffel, sprach kein Wort und erklärte endlich nach 1/2 stunde, weiter rei-
ten zu wollen. ich ließ ihn denn reiten und blieb, und freue mich darüber,
denn es war das eigenthümlichste haus und hauswesen, das ich seit lange
gesehen, keine spur von comfort, jedes Zimmer im Bau, die Wände und dä-
cher durchlöchert, die äußerste geschmacklosigkeit in Allem und Jedem,
freymaurerzeichen etc. überall (in meinem schlafzimmer waren an der
decke cabalistische figuren gemalt, unter denen frankreich, oesterreich,
rußland und england vorkamen, die 3 letzteren wie mir schien als ver-
fluchte) dabey Massen von Gemälden, Bronzen, Cameen, Seltenheiten etc.
aller Art, ein wahres caparnaum, der eine, m. figon, ein wackerer ouvrier
ohne einen funken Bildung, so daß er einen kupferstich für ein gemälde
nahm, dabey die größte Bonhomie und wahrhaft patriarchalische sitte,
eine uralte frau, mutter des zweyten, m. cova genannt (lauter Provença-
len), Witwe eines vieux de la vieille, als die allgemeine hausmutter etc. das
merkwürdigste aber war eine von cova erbaute, entsetzlich geschmacklose
kirche, welche der hiesige apostolische vicar zu weihen sich weigert, und
wo nun cova für sich und die hausleute täglich eine Art Privatgottesdienst
hält. ich selbst mußte gestern 6 uhr einer Art von vesper dieser Art bey-
wohnen und hatte alle mühe, nicht zu bersten, als figon, cova, eine Art
haushälterinn (außer mir die einzigen in der kirche) aus leibeskräften
sangen und brüllten.
mr. rogier gab mir heute hier den schlüssel zu dieser räthselhaften
Wirthschaft. figon ist ein gutmüthiger, geschickter aber ganz ungebilde-
ter seidenspinner, der schon seit Jahren alle stufen mystischer narrheit
durchgemacht hat, Phalanstère, Boule magique, magnetismus, geister-
beschwören etc., und welchen nun cova, wie es scheint ein ausgemachter
gauner, exploitirt und ruinirt.
heute früh ritt ich aus diesem gutmüthigen narrenhause fort, fand im
khan hossein einen unserer mukkari,1 der mich erwartete (das Wetter war
superb), und kam gegen 1 uhr ganz allein hier an, da ich, als ich in die herr-
liche ebene von Beyrut kam, voraussprengte, ungeduldig, endlich dieses
Ziel zu erreichen.
gestern schnee und ungemach, hier hoher sommer, duftende vegeta-
tion, blauer himmel, ruhige see. Beyrut ist ein zauberischer ort und dmitri
1 vermieter von reit- und lasttieren.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien