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April 1854
in kürzester Zeit werden, dazu bin ich fest entschlossen, so oder so. es thut
mir daher einige ruhe und Zeit zur überlegung noth. Am 10. erhielt ich
die fehlenden 2 Posten, Briefe und Zeitungen aus europa bis mitte märz,
welche mir von Alexandria über smyrna nachgeschickt worden waren, und
habe mit Beantworten, Zeitungen lesen etc. zu thun gehabt.
die franzosen schiffen ihre truppen bereits in der türkey aus, die eng-
länder folgen nach, napier hat den sund passirt, eine kriegserklärung ist
aber noch nicht erfolgt. Preußen agitirt sich, um jetzt noch, da es zu spät
ist, zu vermitteln, und scheint zu rußland hinüberzuneigen und auch uns
in diesem Sinne zu influenziren. Wenigstens scheinen wir weniger kampf-
lustig als vor 14 tagen und reden viel mehr, als nöthig und würdig ist,
davon, „mit Preußen hand in hand zu gehen“ – !? daneben gehen mysteri-
öse dinge vor: l. napoleon kokettirt mit den italienern, Breniers sendung
dahin, die Bonapartischen Prinzen, die unterhandlungen mit der schweiz
und die neuen Polenhoffnungen, il y a là du louche, und beweist immer
mehr, daß kein mensch wissen kann, was die ganze sache noch für eine
Wendung nehmen mag.1 unsere inneren Zustände sind so zerrüttet als je,
das Agio auf 35! da sind wir dann freylich nach Außen in jeder Beziehung
paralysirt.
ich aß neulich bey gödel en tête-à-tête mit ihm und seiner frau, machte
dann einen schönen spaziergang mit ihm zu dem sogenannten taubenfel-
sen, wo man eine herrliche Aussicht über die küste bis sidon und sur (ty-
rus) hat. er ist, wie mir scheint, ein sehr unterrichteter und gescheidter
Mann, aber, obwohl er immer das Gegentheil versichert, ein eingefleisch-
ter Bureaukrat mit allen seinen ränken, insinuationen etc., von denen ich
besonders in Beziehung auf Pizzamano ein paar widerliche erfahrungen
machte. mir macht der mann übrigens die cour, wahrscheinlich weil er
voraussetzt, ich sey ein freund Brucks.
die stellung unserer consuln ist allerdings eine ungenügende bey uns,
namentlich im vergleiche zu denen anderer mächte, schlecht bezahlt, wenig
von oben unterstützt (eine Besserung ist ihre Zuweisung an das ministerium
der auswärtigen Angelegenheiten allerdings2), wenig Avancement durch die
noch viel zu geringe Anzahl besoldeter consulate etc. und ihre Ausschlie-
1 der französische spitzendiplomat Alexandre Brenier de renaudière erkundete während
einer italienreise vom dezember 1853 bis februar 1854 unter anderem die Bereitschaft
der turiner regierung zur teilnahme an dem zu erwartenden krieg gegen russland im
orient. die weiteren von Andrian gemachten Aussagen über politische vorgänge beziehen
sich auf die vielen im vorfeld des Ausbruchs des krimkriegs kursierenden medienberichte
und gerüchte.
2 Worauf sich Andrian hier bezieht, ist unklar, die konsulate kamen erst 1859 aus der Zu-
ständigkeit des handels- in jene des Außenministeriums.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien