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Mai 1854
die ganze Politik der regierenden Paschas hier (denn der sultan regiert
ebensowenig, als kaiser ferdinand regierte) ist ein misérables intriguen-
spiel, wobey es sich nie um Principien, sondern nur um persönliche interes-
sen und stellen handelt. um jeden Posten gibt es hunderte von competito-
ren, einer so befähigt als der Andere (!), und ihre Besetzung hängt lediglich
vom Zufalle und von der intrigue ab und wechselt jeden Augenblick, daher
eine masse von stellenjägern und intriganten. von höhern interessen keine
spur. niemand unter ihnen, und am allerwenigsten die sogenannten refor-
mer, glauben an fortbestand des reiches, und denken daher nur daran,
ihre Pfeifen zu schneiden. einige alttürkische fanatiker, wie z.B. der ex-
serastier mehemet Ali, haben vielleicht noch diesen glauben, sind aber die
unfähigsten und unwissendsten, an sie schließen sich einige cilivisirtere
türken wie z.B. kamik Pascha etc., welche aus europa die überzeugung
mitgebracht haben, daß die türkey sich nur durch festhalten am Alten ihr
leben fristen könne. Alles übrige hat weder überzeugung noch interesse.
Zwischen diesen nun manœuvrirt redcliffe mit der überlegenheit 40jähri-
ger erfahrung und ist der eigentliche herr im hause.
heute sah ich eine Parade von 5 türkischen Bataillonen nebst 1 regi-
ment cavallerie und etwa 24 geschützen, der sultan ritt in kleiner bloß
türkischer Begleitung an ihnen vorüber in die polytechnische schule, wo
heute Prüfung war (die gesandten waren geladen), und wurde mit hurrah
empfangen. Als er vorüber war, gab die Artillerie einige salven, und die
Infanterie feuerte Pelotonfeuer und Salven ganz vortrefflich, überhaupt se-
hen die truppen außerordentlich gut aus.
Neulich speiste der österreichische Consul in Damascus, Pfäffinger, hier,
der auf der durchreise von Wien nachhause hier durch kam, seitdem aber
schon abgereist ist, der Mann gefiel mir sehr wohl.
man spricht jetzt doch davon, daß ein theil der truppen, engländer,
nach varna gebracht werden sollen, um dem kriegesschauplatze näher zu
seyn, das glaube ich aber nicht. Auch kommen nächster tage 10.000 fran-
zosen aus gallipoli hieher, es war bisher für sie ein großer kummer, daß
hier nur engländer standen. in Athen sollen 10.000 franzosen gelandet
seyn, der griechische Aufstand scheint übrigens bereits zu erlöschen, es
waltet ein günstiger stern über uns, der nun in dieser türkischen frage
zum zweytenmahle die folgen unserer ungeschicklichkeit neutralisirt.
ich glaube nicht, daß Bruck, so ein ausgezeichneter mann er auch ist, sei-
ner hiesigen stellung vollkommen gewachsen sey, er ist zu wenig gewandt,
zu wenig Weltmann und kennt das hiesige terrain (wo die intrigue eine
hauptrolle spielt) zu wenig, noch ist er der mann dazu, es jemals vollstän-
dig kennen zu lernen. il est trop entier, zu unbeholfen, mit einem Worte zu
sehr deutscher, und erinnert mich oft an die staatsmänner von 1848. Auch
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien