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1195.
Juli 1854
ich lebe sehr einförmig, mache meistens morgens eine Promenade, esse
und sitze überhaupt faute de mieux viel im casino, Abends im Paradiesgar-
ten etc. ich sehe viel A. mensdorff, holstein, schlick, fonton, e. Bethlen,
villers, c. reischach etc. neulich besuchte ich schmerling in Weinhaus, im-
mer der Alte, gereizte und ziemlich beschränkte liberale korporal. in Baden
war ich 2mal, das letztemal auf 2 tage, fuhr von da mit flore nach vöslau
zu fünfkirchen und ging nach tische mit ihnen nach gainfahrn, wo die von
dem esel fries herbeygerufenen Jesuiten ihre letzte missionspredigt hiel-
ten. die sache ekelte mich aber so sehr an, daß ich gleich wieder umkehrte.
glücklicherweise finden dergleichen eseleyen keinen Boden hier. man sagt
mir hier, daß der kaiser seit kurzem, namentlich seit den vorgängen im
großherzogtum Baden, in seiner katholischen spielerey bedeutend irre ge-
worden seyn soll.1 sonst sah ich in Baden vor Allem meine gute alte clemen-
tine mocenigo, marie villers, serbelloni etc.
[Wien] 5. July
ich habe noch immer keine Antwort hinsichtlich meines gesuches. dieses War-
ten ist mir unangenehmer als jede, wie immer beschaffene, erledigung, und
gott weiß, wie lange das noch dauern mag, urgiren läßt sich diese sache nicht.
ich werde es wohl nicht lange mehr in dieser langweiligen stadt aus-
halten, sondern, da ich mich nicht weit entfernen kann, nach Baden oder
vöslau ziehen. Wien wird immer kleinstädtischer und mesquiner, und mich
wurmt das mehr als fast Alles Andere, weil ich diese stadt, in der ich mein
halbes leben zubrachte, liebe und weiß, welch eine große Zukunft sie haben
könnte, wären die leute nicht gar so dumm, und was für ein festes Binde-
mittel sie dann für die ganze monarchie seyn könnte.
das Wetter ist regnerisch und unangenehm, selten ein schöner tag. eine
große Bekümmerniß verursacht mir die unerwartete schwere krankheit
meiner armen m[arie] m[eixner], welche nun seit 14 tagen, wie ich be-
sorge, an der Brustwassersucht darniederliegt, ich ahne das schlimmste
und fühle das um so tiefer, als ich sie nicht sehen kann und nur durch ihre
mühsam geschriebenen Briefe nachrichten erhalte.
morgen erwartet man die Ankunft gortschakoffs und der russischen
Antwort,2 man glaubt nicht, daß sie befriedigend ausfallen werde. die rus-
nicht als Zwangsanleihe konzipiert, wurde jedoch aufgrund des starken staatlichen drucks
zur Zeichnung weitgehend als solche empfunden.
1 Im Konflikt um die Beziehungen zwischen Staat und Kirche ließ die badische Regierung
im mai 1854 den freiburger erzbischof und weitere oppositionelle geistliche, die jeden
staatlichen Einfluss auf kirchliche Angelegenheiten und die Priesterausbildung ablehnten,
verhaften.
2 die Antwort auf die österreichische sommation vom 3.6.1856 auf bedingungslose räumung
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien