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August 1854
ganz in ihrem ganzen Wesen, daß mir dabey auch nicht einen Augenblick
die Zeit lang wurde. mrs. norton ist wieder ganz anderer Art, weniger
brillant und lebhaft, aber mit vielleicht mehr fond und lebenserfahrung.
dazwischen sehe ich außer meinen schwestern elise draskovich, die grä-
finn Odonnell, Clementine Mocenigo etc., so daß die Tage mir recht ange-
nehm verfließen.
ich kam gestern herein und gehe heute wieder hinaus. hier ist es so leer
und langweilig wie immer, die schwankungen in unserer Politik wieder-
holen sich alle tage, seit gestern sind die truppenmärsche wieder sistirt,
und die freunde der russen hoffen wieder auf frieden, es scheint, daß der
czar „aus friedensliebe“ nicht nur die Wallachey (Bukarest ist schon seit 1.
dieses monats geräumt), sondern auch die moldau verläßt und sich hinter
den Pruth zurückzieht, wir werden sie nun wohl besetzen. dadurch bekom-
men natürlich die preußischen Bestrebungen wieder oberwasser, und es
handelt sich nun abermals darum, ob wir noch weiter gehen sollen? die
Westmächte werden den krieg auf jeden fall fortsetzen.
Allerdings ist oesterreich oder vielmehr der kaiser gegenwärtig eine Art
staberl in floribus,1 er wird von allen seiten gehätschelt, vor Allen Andern
von unserer Journalistik, welche in dieser Zeit einen wunderbaren Auf-
schwung genommen hat, ob er aber nicht unrath merkt? es hat sich seit
einem Jahre vieles verändert, und das umkehren würde ihm nicht mehr so
leicht werden. Jedenfalls hat er die Allianz rußlands auf immer verscherzt
(bisher seine hauptstütze) und muß nun wohl nolens volens wenigstens bis
auf einen gewissen grad mit den Westmächten gehen, und das kann ihn
weiter führen, als er denkt.
das „freywillige“ Anlehen wird trotz des unerhörten Zwanges, den die
regierung ausübt, kaum zu dem minimalbetrage von 350 millionen zustan-
dekommen und wird in ein paar monathen verzehrt seyn, was aber dann?
es war der letzte tropfen, den man ausgepreßt hat.
Alles das zusammengenommen berechtigt noch immer zu der, wenn auch
unwahrscheinlichen hoffnung, daß ein systemwechsel im inneren sich am
ende als der einzige rettungsanker aufdringen werde.
Jochmus hat mir neulich einen langen Brief aus hongkong und so eben
durch lord Ponsonby ein mémoire über ostindien zugeschickt, ziemlich
common-place.2
1 staberl in floribus – bekannte Posse von carl carl (karl v. Bernbrunn).
2 Die von August Jochmus während einer Weltreise verfassten Schreiben finden sich in K.
115, umschlag 666.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien