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Tagebücher144
[Wien] 5. november
es ist schon tüchtig kalt, jedoch ein gesundes trockenes Wetter, welches
für die cholera sehr ersprießlich zu seyn scheint, da diese in der Abnahme
begriffen ist, täglich nur mehr zwischen 20 und 30 todte. neues gibt es we-
nig. vonderPfordten ist hier und möchte für sein leben gerne große Politik
machen, aber wie es scheint ohne erfolg. Preußen schwankt noch immer
und wird sich am ende durch concessionen im norden und an der ost-
see erkaufen lassen. in und um sebastopol wird hart gekämpft, in diesem
Augenblicke dürfte die festung wahrscheinlich schon gefallen seyn, der
mangel an voranstalten (während man doch seit monathen auf allen dä-
chern von der expedition nach der crim schwatzte) und an feldherrntalent
von seite der russen ist unglaublich, die Alliirten entwickeln eine überra-
schende technische überlegenheit und große energie und senden fortwäh-
rend große massen von truppen, material etc. nach dem osten, obwohl der
Winter da ist, sollten sie an einen Winterfeldzug denken?
unsere finanzen stehen trotz Anlehen und eisenbahnverkauf schlechter
als je, das Agio ist im steigen, circa 25%, während das nationalanleihen auf
die herstellung des metallumlaufes gerichtet war, muß die Bank ihre no-
tenausgabe stets vermehren, sowohl der steigenden staatsausgaben wegen
als durch die vorschüsse, welche sie auf staatspapiere geben muß, um den
subscribenten des Anlehens die rateneinzahlungen zu ermöglichen, so gibt
sie also mit einer hand 10 aus, um mit der andern 5 zurück zu erhalten,
und das Alles noch vor dem Ausbruche des krieges.
ich habe noch immer keine Antwort, das Warten wird mir immer uner-
träglicher, ich kann, so lange dieser Zustand fortdauert, nicht das gering-
ste unternehmen, mich überhaupt auf gar nichts einlassen und nicht den
geringsten entschluß fassen.
gabrielle ist mit der erzherzogin hildegarde auf einige Wochen nach
darmstadt. königinn therese von Bayern ist gestorben, und da wollte sie
eine Zeit bey vater und schwester zubringen.1
[Wien] 11. november Abends
ein tag nach dem andern vergeht, und noch immer vor sebastopol keine
entscheidung, die Alliirten hielten die sache für zu leicht und scheinen in
diesem glauben nothwendiges vernachlässigt zu haben, der einbrechende
Winter macht ihre lage immer bedenklicher, dagegen verstärken sich die
russen, und die festung vertheidigt sich tapfer. Am 5. sollte ein sturm
1 erzherzogin hildegard, die gattin erzherzog Albrechts, war eine tochter der am 16.10.1854
verstorbenen königin theresia und des in der märzrevolution 1848 abgedankten könig
ludwig i. ihre schwester mathilde war mit großherzog ludwig iii. v. hessen verheiratet.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien