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Tagebücher152
ich lebe ziemlich langweilig fort, casino, theater, manchmal gehe ich
des Abends zu h. todesco oder des morgens zur schönen frau v. neuwall.
Wien ist noch stiller und langweiliger als sonst, die politischen verhält-
nisse, die cholera, die schwangerschaft der kaiserinn werden diesen Win-
ter zu einem ungewöhnlich stillen machen. vieles ist bei der Armée und in
venedig.
gabrielle ist gestern von darmstadt zurückgekehrt und zeigte mir ei-
nen so eben von erzherzog Albrecht erhaltenen Brief, qui peint l’homme,
sie hatte ihn nämlich ersucht, in meiner Angelegenheit mit dem kaiser
zu sprechen. darauf antwortet er unter tausend entschuldigungen und
mit sichtbarer verlegenheit, er könne das nicht thun, le fait est qu’il n’ose
pas, gibt mir aber den gutgemeinten rath, ich solle in die Armée treten,
um mich zu „reinigen“! nous en sommes donc encore toujours là. ich habe
übrigens meine erwartungen nicht auf ihn gesetzt, nur die überzeugung
von der nothwendigkeit oder nützlichkeit meiner verwendung kann zu ei-
nem entsprechenden resultate führen, und diese überzeugung hat Buol.
die dinge schreiten rasch vorwärts, und ich möchte, wenn einmahl die
nothwendigkeit einer Änderung klar hervortritt, in der nähe stehen, damit
das Auge und die Wahl leichter und ohne Widerstreben auf mich falle und
keine hartnäckigkeit und falsche schaam sie hindere.
[Wien] 27. dezember
ich habe neulich wieder einmahl mit Buol gesprochen, er wußte von nichts,
hat mein gesuch, das ich an den kaiser am 22. vorigen monats richtete,
nicht erhalten und scheint auch mit diesem nicht gesprochen zu haben,
sollte sein eifer erkaltet seyn? oder sollte auch er, wie alle Anderen, den
muth nicht haben, seiner majestät von etwas zu sprechen, worüber er nicht
directe befragt wird? Wie dem auch sey, ich werde jetzt noch eine kurze Zeit
warten und dann auf eine wie immer geartete entscheidung dringen.
hier aber mahnt es mich lebhafter als je an den Anfang des endes und
an das Jahr 1847, nur mit dem unterschiede, welcher zwischen einem bür-
gerlich gemüthlichen rührspiele und einer großartigen tragödie besteht.
eine solche scheint sich vorzubereiten, die allgemeine stimmung ist dar-
nach, bey allen ständen, in allen Provinzen ohne Ausnahme, das system
hat sich ad absurdum deducirt, und wie 1847, so gibt es auch jetzt nieman-
den, der eine hand zu dessen erhaltung rühren wird, der Bankerott steht
vor der thür, das nationalanlehen ist so gut wie aufgezehrt, das silberagio
steht um 30 und ist fortwährend im steigen, dazu der krieg, in den wir
unter dem Widerstreben der regirung und der ganzen Bevölkerung hinein-
gezwungen werden, die schändliche Wirthschaft der letzten 5 Jahre rächt
sich jetzt, und die Westmächte haben das Amt der nemesis übernommen,
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien