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Jänner 1855
als einen geschickten schachzug rußlands, um die sache zu verzögern und
uneinigkeit zwischen die verbündeten zu bringen, der friede ist, glaube ich,
so entfernt als je, es müßte denn die sprengung der Allianz zwischen eng-
land und frankreich gelingen.
Allerdings scheint l. napoléon dem frieden geneigter zu seyn, als es eng-
land ist, welches wie in Allem, so auch hier grandios verfährt, und von unse-
rer seite wird nicht minder auf eine sprengung hingearbeitet, indem wir uns
fester als ja an frankreich anschließen, höchst ungeschickterweise, da wir
ja dadurch nur für rußland arbeiten und wir jedenfalls nur einen stepping-
stone für l. napoleon abgeben würden, um über uns hinweg zu einer Allianz
mit rußland (dieser größten gefahr für uns) zu schreiten.
unter diesen umständen dürfte die ministercrisis in england wohl auf-
gehalten werden, es handelt sich nämlich um die Ausscheidung der Peeliten
aus dem cabinette, welche einer zu lauen kriegführung beschuldiget wer-
den. das resultat derselben wäre eine energischere handlungsweise und
höchst wahrscheinlich Palmerston als Premier.
ich habe eben jetzt eine bittere erfahrung gemacht. m[arie] m[eixner], die
gute, treue, edle aber zu leidenschaftliche seele hat in folge eines heftigen
Auftritts mit ihrem manne, zu dem ich die freylich unfreywillige veranlas-
sung war, eine fausse couche gemacht und ihren mann verlassen, sie wohnt
bey ihren Ältern, will durchaus eine scheidung und befindet sich in einem
physisch und moralisch jammervollen Zustande. mir thut das herz wehe, so
oft ich die Arme sehe, so hart straft sich der leichtsinn, mit dem ich die liai-
son anfing, an ihr, nicht an mir, es ist unbeschreiblich, was sie meinetwegen
seit 2 Jahren an leib und seele gelitten hat, und was steht ihr noch bevor!
das Wetter ist warm und magnifique, noch immer keine spur von schnee.
gabrielle, die schon auszugehen anfing, wieder unwohl, doch dießmal unbe-
deutend.
[Wien] 14. Jänner
es kömmt nach und nach hervor, daß die russische sogenannte Annahme
weder so unbedingt noch so redlich gemeint war, als man es am 7. und gleich
darauf vorgab. die russenfreunde geben sich unglaubliche mühe, die frie-
densliebe und ehrlichkeit des czaren in das licht zu stellen, alle schuld
einer etwaigen Ablehnung der friedensverhandlungen auf die Westmächte
zu schieben und oesterreich von ihnen zu trennen.
gortschakoffs mündliche Annahme der diesseitigen interpretation der 4
Punkte war wirklich keine unbedingte, wie man damals sagte, sondern an
vorbehalte geknüpft, welche Buol nicht als wesentlich betrachtete, während
die beyden westmächtlichen gesandten allerdings dieser Ansicht waren und
daher nur auf Buols Zureden und unter dem vorbehalte der ratihabition
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien