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ihrer regierungen ihre Annahme erklärten. ein gewisser Zwiespalt der mei-
nungen zwischen ihnen und uns ist also allerdings vorhanden, und an intri-
guen, diesen zu erweitern, fehlt es nicht.
übrigens war jene interpretation, welche am 29. in der form eines me-
morandums gortschakoff mitgetheilt wurde, nur in allgemeinen Ausdrük-
ken gehalten, von bestimmten forderungen, wie die schleifung sebastopols,
reduzirung der russischen flotte im schwarzen meere etc. war keine rede.
Aber ebendeßhalb hätte auch die unbedingteste Annahme solcher unbe-
stimmter interpretation als Basis zu friedensverhandlungen zu nichts ge-
nützt (um wie viel weniger die wirklich erfolgte bedingte), da diese forde-
rungen denn doch einmahl gethan werden müssen und ein sine qua non für
die Westmächte bilden.
die ratihabition der Westmächte über die erklärung ihrer hiesigen ge-
sandten ist noch nicht erfolgt. lord John russell ist in Paris, um sich deß-
halb mit dem kaiser zu besprechen. mittlerweile sind die russen wieder in
die dobrudscha eingerückt, also offensive gegen die türken vorgegangen,
das spricht auch nicht für friedensliebe.
Bey sebastopol rüstet man sich beyderseits auf einen entscheidenden
schlag. Jedenfalls ist was dort vorgeht wichtiger als die hiesigen schach-
züge, fällt sebastopol, so kann es zum frieden kommen, wenn nämlich
kaiser nicolaus dann keinen unzeitigen stolz zeigt, fällt es nicht, dann ist
vorderhand von frieden keine rede. unverrichteter dinge abziehen werden
und können die Westmächte nicht.
Preußen aber ist russischer als je und bereitet jetzt eine scission am
Bundestage vor, indem es sich der österreichischen Proposition auf mobil-
machung des halben contingentes (in gemäßheit des Bundesbeschlusses
vom Anfange december) widersetzen wird. Bayern, Würtemberg und viel-
leicht noch Andere dürften sich an Preußen halten. da dürften wir dann das
schauspiel einer offenen Widersetzlichkeit gegen einen Bundesbeschluß er-
leben, die kleinen brechen sich selbst die hälse.
Wir haben jetzt seit ein paar tagen rauheres Wetter. gabrielle darf noch
immer nicht ausgehen, ich bringe täglich vormittags ein paar stunden bey
ihr zu, zuweilen auch die Abende. Alexander mensdorff ist hier. die große
Welt ist heuer stiller als sonst, die Politik, der krieg, der allgemeine geld-
mangel, die schwangerschaft der kaiserinn (daher bey hofe nichts) und die
Abwesenheit vieler und gerade solcher leute, die sonst einen salon hielten,
jetzt aber theils in venedig, theils auf dem lande sind, trägt die schuld. in
einer so kleinen und wenig abwechselnden gesellschaft wie die hiesige ari-
stokratische (in ihrer noch immer fort dauernden leidigen Absonderung) ist
die kleinste lücke fühlbar, es gibt jetzt hier in dieser Welt nur 2 salons: der
schönburgische, exclusivpolitisch und ultrarussisch, wo die hügel und kön-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien