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1615.
Februar 1855
Bruck soll nun erst ende dieses monats ankommen, da er die Ankunft
kollers in constantinopel abzuwarten hat, er hat mir neulich von dort ge-
schrieben und mich aufgefordert, noch ein paar monathe zu gedulden und
den Ausgang der gegenwärtigen crisis abzuwarten, ehe ich einen entschluß
fasse, das wollte ich ja ohnehin, was wäre auch in diesem Augenblicke für
ein entschluß zu fassen? sein Brief war vom 18., an welchem tage er von
seiner hierherberufung noch nichts wußte.
man ist doch mitunter den sonderbarsten Zumuthungen ausgesetzt, so
will z.B. Professor Biedermann in leipzig, der ehemalige sekretär der na-
tionalversammlung in frankfurt, ich solle für ein von ihm zu gründendes
sammelwerk die geschichte oesterreichs von 1815 bis heute schreiben!!
Als ob ich lust und ruhe zu dergleichen dingen hätte, oder überhaupt der
mann dazu wäre.
die ministercrisis in england ist noch nicht zu ende, doch erwartet man
stündlich eine lösung, wahrscheinlich mit Palmerston an der spitze, wenn
auch nicht dem nahmen so doch der Wesenheit nach. mrs. norton [sic]a
nehmen. toggenburg ist übrigens ein eifriger Beamter, weiter nichts, ein
blindes Werkzeug ohne höhere Ansichten, sein nachfolger als statthalter
in venedig ist – herr haimberger! ein ehemaliger Professor des römischen
rechtes, zuletzt reichsrath, welch aristokratischer nahme!1 – ich bin neu-
gierig, wie lange es noch dauern wird, bis nestroy irgendwo statthalter
wird! diese ernennung macht sensation, und man überzeugt sich immer
mehr, daß das jetzige system nichts anderes ist als le gouvernement de la
canaille. leute ohne nahmen, ohne stellung, ohne Ansehen, ohne grund-
sätze, ohne intelligenz, ohne vermögen, das ist die clique, welche unter den
Auspicien seiner majestät des kaisers franz Joseph das land zu grund
richtet – quousque tandem?
neulich antwortete der kaiser einem ungarischen magnaten, der über
die dortigen Zustände ein paar freymüthige Worte sprach, trocken und ver-
drießlich: ich erwarte und verlange nichts Anderes als unterthanengehor-
sam – – ! dieser dauert aber gerade solange als die übermacht – er will
nicht hören, so wird er fühlen.
das englische minsterium ist gebildet, Palmerston Premier, der kaiser
von rußland hat eine levée en masse angeordnet, ich glaube unter diesen
umständen kaum mehr an die eröffnung der hiesigen friedenskonferenzen
a das folgende Blatt wurde aus dem tagebuch gerissen und ist verloren, vgl. auch eintrag v.
14.1.1855.
1 nachfolger des zum handelsminister ernannten georg v. toggenburg als statthalter in
venedig wurde graf kajetan Bissingen, nicht Anton haimberger.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien