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Februar 1855
der fasching, welcher in diesen letzten Wochen ziemlich lebhaft gewor-
den ist, geht morgen zu ende, on a tâché de rire du bout des lèvres, denn
die politischen inneren und auswärtigen und die trostlosen materiellen Zu-
stände absorbiren alle wirkliche Aufmerksamkeit, dazu kommen colossale
Börsenmanœuvres, welche die französischen speculanten an unserer ver-
gleichungsweise unschuldigen Börse auszuführen anfangen, und die wohl
noch stärker kommen werden.
den lichtpunkt in diesem öden, beschäftigungslosen leben bildet meine
schöne, reizende, verständige, liebenswürdige gabriele neuwall, ein schutz-
und friedensengel für mich, den ich fast noch mehr verehre als liebe, sie ist
eine durch und durch edle und intelligente natur, beynahe zu tief und ernst,
wenn dieses ein fehler wäre, so daß ich zuweilen um den Ausgang besorgt bin.
[Wien] 24. februar
Abermals eine englische ministerkrise, die Peeliten, die sich ohnehin nur
mit Widerstreben unter Palmerston gefügt hatten, sind ausgetreten, und
es dürfte nunmehr ein entschiedenes Whigcabinet zusammenkommen, also
noch weniger friedenschancen als bisher. lord John russells Abreise ist
suspendirt, doch werden die hiesigen conferenzen ohne Zweifel beginnen,
wäre es auch nur pour le forme. ich bin auf détails begierig, die ich durch
mrs. norton erfahren werde, sie hat nun keinen intimen freund im mini-
sterium mehr als lord lansdowne.
noch immer glauben eine menge leute an unsere theilnahme am kriege
gegen rußland nicht, in deutschland, und zwar namentlich unter den con-
servativen classen, ist unsere zunehmende freundschaft mit frankreich
höchst unpopulär, und Preußens Actien sind in demselben verhältnisse im
Zunehmen.
Bruck, dessen Ankunft in 10–12 tagen erwartet wird, wird seinen ein-
fluß aus verschiedenen Gründen wohl in die Wagschale des Friedens wer-
fen, wenn er nämlich annimmt, was ich kaum mehr glaube, denn zu helfen
ist nicht mehr, die inneren materiellen und sonstigen Zustände gestalten
sich täglich trostloser, trotz national-Anlehen und eisenbahnverschleude-
rung fallen die Papiere, und das Agio steht auf 30, die regierung hält sich
schon seit einem Jahre durch nichts Anderes mehr als durch schwinde-
ley und raub. depositen, Waisengelder etc., Alles ist bereits in den gro-
ßen Abgrund versunken, man geht jetzt damit um, eine zweyte Zettelbank
unter der erzwungenen haftung des größern grundbesitzes zu errichten
etc., man erwartet die ärgsten und unberechenbarsten gewaltmaßregeln
gegen das Privateigenthum, und zu allen diesen dingen gibt es nur einen
geeigneten mann: Bach. credit ist solange nicht möglich, als diese Willkür-
herrschaft besteht, und doch brauchen wir credit wie einen Bissen Brod.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien