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1693.
April 1855
gangen war als anderswo, und wo der jetzige despotismus die tagespresse
niederhält, wenden sich alle ausgezeichneteren geister tiefern politischen
studien zu, ein gleiches geschieht in deutschland, und allenthalben prae-
dominirt eine und dieselbe richtung, nämlich die der reaction gegen die
idee des absoluten staates (sey nun seine form welche immer), ein Zu-
rückkehren auf das historische, ein Wiederzuehrenkommen des aristocra-
tischen germanischen Principes, des selfgovernment, gegen die brutale,
nivellirende, democratisch absolute centralisation. Auch bey uns, wo die
regierung gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen hat, hoffe ich
und schließe ich aus so manchem, daß diese richtung bald für immer ab-
gethan seyn wird, ein, wenn auch nur geringfügiges, Anzeichen dieser um-
kehr finde ich unter andern darin, daß die Jugend gegenwärtig dem Staats-
dienste ebenso eifrig ausweicht, als sie ihn früher suchte, überall zeigt sich
nun mangel an Aspiranten. der konstitutionelle Absolutismus der 30 Jahre
vor 1848 war ein ebensolches unding wie der brutale eines menschen, und
das fängt man jetzt an einzusehen.
es hat manchen Anschein, daß england die französische Allianz nach
und nach überdrüssig zu werden anfängt, je größere dimensionen der
landkrieg annimmt, desto mehr tritt natürlich frankreich in die erste
reihe, was england natürlich nicht angenehm seyn kann, und louis na-
poleon, der jetzt wirklich die majorität seines landes hinter sich hat, wird
aus ebendiesem grunde täglich kriegslustiger. diese divergenz kann noch
zu den sonderbarsten resultaten führen. Am besten könnte diese franzö-
sische Präponderanz durch unseren energischen Beytritt neutralisirt wer-
den, sollten wir aber den fehler begehen, diesen beginnenden Zwiespalt
jetzt schon und zwar im interesse des friedens zu exploitiren und auf diese
Weise frankreich zu isoliren, so müssen wir uns bey dem abenteuerlichen
character l. napoléons und bey der eigenthümlichkeit seiner stellung
auf die unberechenbarsten sprünge gefaßt machen, u.a. auf ein plötzliches
umschwenken auf die seite rußlands, ob man bey der hier herrschenden
friedenssehnsucht Alles dieses bedenkt? ist sehr die frage, daß wir nach
der hand, d.i. nach dem frieden, die morsche anglo-französische Allianz zu
sprengen und uns enger als je mit england zu verbünden trachten müssen,
leidet übrigens nicht den mindesten Zweifel.
[Wien] 3. April
ich fühle zuweilen eine unglaubliche sehnsucht nach einer wenn auch nur
kurzen luftveränderung, um mich aufzufrischen. hier fühle ich mich alt
werden und zusammenschrumpfen, es ist ein eigenthümliches gefühl der
Bangigkeit und muthlosigkeit. Aber ich kann mich nicht entschließen, un-
ter alte, sogenannte gute Bekannte zu gehen, wo ich reden, beantworten,
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien